Kapitel 8

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Am Freitag ging ich wieder zur Schule. Mir ging es zwar immer noch nicht blendend, aber ich hatte bereits eine Klausur verpasst, und wollte nicht, dass sich das nur noch mehr summierte. Denn - sagt mir, was ihr wollt - nachschreiben ist anstrengender, als am Tag der Arbeit in der Schule zu sein.

"Da bist du ja endlich wieder!"

Lydia hatte am Eingang auf mich gewartet, denn gleich zu Beginn hatte ich Französisch - und sie eigentlich Freistunde. Doch im Gegensatz zu mir hatte sie keine Mitfahrgelegenheit außer den Bus und musste deswegen schon zur ersten Stunde anwesend sein.

Ich erwiderte ihre Umarmung und lächelte. "I'm back", lachte ich und sah dann auf die Uhr, als es klingelte.
"Und ich muss dich wieder verlassen."

Lydia zog einen Schmollmund und streckte ihre Hand dramatisch nach mir aus.

"Elina, Aidan"
Ich hob meinen Blick von den Aufgaben, die Madame Musso uns gegeben hatte, und sah in die freundlichen Augen meiner Lehrerin.
"Habt ihr gelernt?"

O verdammt. Ich hätte eher damit rechnen sollen, dass ich die Arbeit jetzt in der ersten Stunde nachschreiben sollte.

Kurz verfiel ich in Panik, dann sah ich zu Aidan, der wie aus dem Nichts plötzlich vor mir stand und mich ansah. Sein Blick war wieder finster und kalt - also wie immer. Es hatte sich rein gar nichts zwischen uns verändert, seit er mich ein wenig hinter seine Eismaske hatte schauen lassen. Er war jetzt wieder das kalte Arschloch von nebenan.
Okay... Zurückspulen bitte...

Er muss auch nachschreiben?! War er nicht da? Wieso? Ausgerechnet Aidan. Ausgerechnet Aidan Negro.

Madame Musso schaute mich abwartend an, bis ich vorsichtig nickte. Wird schon schiefgehen.
Schließlich war Französisch mein bestens Fach. So schwer konnte es doch gar nicht werden, oder? Trotzdem galoppierte das Herz allzu schnell in meiner Brust.

"Nebenan der Raum ist leer. Kommt mit.", erwiderte sie mit französischem Akzent und ich sah wie Aidan mit den Augen rollte.

Er hatte also gelernt? Das glaubte ich kaum. Wobei... Seine Noten waren wirklich gut - und das, obwohl er nie in der Schule war. Und obwohl er sich nie am Unterricht beteiligte, sondern nur schweigend in der Ecke saß und aus dem Fenster blickte.

"Viel Glück, Aidan!", rief Serafina, die ihn ansah, als würde sie ihn verschlingen wollen.
Bah, ekelhaft.

Er beachtete sie - wie immer - nicht und wartete stattdessen auf mich. Und was tat ich? Ja genau, ich versuchte gerade den Kugelschreiber aus meinen Mäppchen zu holen, dessen Reißverschluss gerade allen ernstes klemmte. Musste bei mir in solchen Momenten immer alles den Bach runtergehen? Ich zog weiter an dem Reißverschluss, der einfach nicht nachgeben wollte.

Verdammtes Ding...! Willst du mich verarschen?!

"Nimm den"

Bevor ich darauf reagieren oder mich wenigstens bedanken konnte, war Aidan schon aus dem Raum gegangen.
Perplex starrte ich auf den schwarzen Kugelschreiber, den er mir in die Hand gedrückt hatte, und beeilte mich schließlich, ihm und Madame Musso zu folgen.

"Setzt euch einfach hin, ich bringe euch gleich die Blätter."

Und schon war sie mit wehendem Rock aus dem Raum gestürzt und ich setzte mich in die letzte Reihe an die Wand. Aidan nahm direkt vor mir Platz und drehte sich nicht zu mir um. Der Klassenraum war nicht sonderlich groß - es gab bloß drei Tischreihen und eine winzige Tafel ohne Pult. Und ein Waschbecken gab es auch nicht. Da bekam ich gleich Mitleid mit der Klasse, deren Klassensaal das hier war.

"Danke", überwand ich mich schließlich und hätte mir im selben Moment am liebsten die Hand vor den Mund geschlagen.

Er drehte sich immer noch nicht zu mir um, doch ich sah, wie seine Finger leise auf die Tischplatte trommelten.

"Ich..."

"Lass es einfach." Seine dunklen Augen lagen jetzt auf mir und ich musste schlucken. "Ich weiß, dass du es nicht so meinst. Also lass es einfach."

"Negro, ich wollte doch nur-"

"Voilà. Je vous souhaite bonne chance.", unterbrach mich die Stimme meiner Französischlehrerin.
Sie teilte uns die Blätter aus und stellte sich lächelnd zwischen uns. Immer gut gelaunt. "Auf der ersten Seite findet ihr ein Leseverstehen." Sie beugte sich zu mir vor. "Das ist im Prinzip bloß ein Kapitel aus der Lektüre."

Ich blätterte weiter.

"Und hier findet ihr Fragen zum Leseverstehen. Darauf folgen Fragen zu inhaltlichen Aspekten der Lektüre, die ihr etwas ausführlicher beantworten sollt. Und als letztes folgt eine Textproduktion - der wichtigste Teil, der die meisten Punkte bringt."

Und schon begann der nervenraubende Teil. Das Leseverstehen. An sich nicht schwer, nur wirklich verstörend. Wie die ganze Lektüre. Wer hatte noch gleich bestimmt, dass Jugendliche sowas unbedingt lesen müssen? Sie waren auch so schon abhängig von Alkohol und Drogen - da brauchte man das durch solche Literatur nicht auch noch zu verharmlosen und somit noch mehr Menschen auf Ideen zu bringen.

Madame Musso schaute alle paar Minuten nach uns, während der Rest des Kurses irgendwelche Aufgaben erledigte, und Aidan und ich saßen in diesem kleinen gottverlassenen Raum und schrieben irgendwas aufs Papier.

Écrivez une entrée de journal du point de vue de Sara. Décrivez la relation de Sara avec Jean-Joseph et les problèmes de cette relation.

Und jetzt nochmal auf Deutsch:

Schreibt einen Tagebucheintrag aus Sicht von Sara. Beschreibt ihre Beziehung zu Jean-Joseph und die Probleme dieser Beziehung.

Okay. Alles schön und gut. Aber welche Beziehung? Sara war elf. Elf. Und dieser Jean-Joseph neunzehn. Ganz kleiner Altersunterschied, nicht wahr? Und er war abhängig... von Drogen.

Bin ich die Einzige, die das so verstörend findet?

Ich begann zu schreiben. Keine Ahnung, was genau ich alles schrieb - und ehrlich gesagt war es besser, dass ich mich nach der Arbeit nicht mehr daran erinnerte.

*

"Wie war's bei dir?", fragte ich, als wir den Flur entlang gingen.

Aidan zuckte mit den Schultern und antwortete - natürlich - nicht.
War es wirklich so schwer, auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen? War es zu viel verlangt, eine Antwort zu erwarten, die nicht einfach aggressiv daher gesagt worden war?

"Ich habe es vorhin wirklich so gemeint. Danke." Ich versuchte ein Lächeln, das sogar ganz gut funktionierte - wie ich fand. "Sonst hätte ich da noch zehn Stunden rumgestanden."

"Wahrscheinlich."

Ich hatte auf eine Antwort gewartet, also hätte ich jetzt zufrieden sein müssen, oder? War ich nicht.

"Was ist eigentlich dein Problem?", fuhr ich ihn also ziemlich unüberlegt an. Wieso? Ich hatte die Nase voll. Von was auch immer.

Normalerweise ließ ich mich auch nicht zur Weißglut treiben und dieses Mal hatte er mich nicht einmal angegriffen. Er hatte mir sogar eine Antwort gegeben.

Aidan sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Mein Blick glitt von seinen Augen zu der kleinen Narbe neben seinem Auge und zu der Narbe an seinen vollen und schön geformten Lippen. Woher diese Narben wohl stammten?

Das reicht für heute. Genug Aidan, dachte ich und riss mich endlich von diesem Anblick los.

"Mein Problem bist du, Parker.", erwiderte er ruhig und gefasst.

"Ich? Genau. Und du bist der heißeste Junge der Schule.", meinte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ups, jetzt haben wir beide gelogen."

Er zwinkerte. "Ich weiß, dass ich heiß bin."

Und dann ging er einfach an mir vorbei und mischte sich unter die ganzen anderen Schüler, sodass ich seinen dunklen Haarschopf ziemlich schnell in der Menge verlor. Und ich blieb mal wieder mit offenem Mund zurück.

Ich hasse dich, Aidan Negro!

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Wie fandet ihr das Kapitel? Danke an alle, die die Geschichte lesen und schon mal an alle, die sie vielleicht noch lesen werden.
Ich würde mich sehr über Kommentare und Votes freuen.
Liebe Grüße ❤️

Zerschmettert Where stories live. Discover now