Kapitel 35

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Ich blickte aus dem Fenster. Dicke Regentropfen hatten sich auf das Glas niedergelassen und bahnten sich ihren Weg nach unten. Manche flossen so schnell über das Glas, dass man sie mit den Augen kaum verfolgen konnte. Andere waren langsamer als ich beim Joggen.
Statt dem Schnee, den sich Zoe so sehr gewünscht hatte, regnete es heute - am 24. Dezember. Heiligabend. Der Abend, an dem Aidan zusammen mit Zoe und Monica zu uns kommen wollte. Wir würden diesen Abend alle zusammen feiern - Mum, Zayn, ich und Aidan mit seiner Familie.

"Was hast du an?", fragte Lydia am anderen Ende der Leitung aufgeregt, während ich ein wenig nervös durch mein Zimmer tigerte.

Ich blieb stehen und sah in den Spiegel. "Dieses schwarze Kleid, das ich mir damals gekauft habe. Als du dir die Hand in Mums Autotür eingeklemmt hast - und Zayn dich total besorgt gefragt hat, ob alles in Ordnung sei."

Das mit der Hand war auch noch eine Geschichte für sich. Jedenfalls war es meiner besten Freundin damals aber so peinlich gewesen, dass sie Zayn den ganzen Tag nicht mehr in die Augen hatte schauen können. Dabei war nichts passiert, das ihr hätte peinlich oder unangenehm sein müssen. Und mein Bruder hatte nur nett sein wollen. Stattdessen hatte sie ihn dann ignoriert und war ihm aus dem Weg gegangen, wo sie nur konnte.

"Das wollen wir jetzt nicht nochmal aufrollen", meinte sie. "Das knielange Kleid, das an der Taille eng ist? Wo der Rock beim Drehen so rumfliegt?"

Ich nickte, dann wurde mir bewusst, dass sie mich ja überhaupt nicht sehen konnte. Auf Videochat hatte ich heute absolut keine Lust gehabt. Denn irgendwie sah ich trotz des hübschen Fummels, den ich trug, total scheiße aus. Meine Haare wollten nicht liegen, wie ich es wollte und zu meinem Bedauern hatte ich einen riesigen Pickel auf der Stirn, der sich auch noch entzündet hatte, weil ich die Finger nicht von ihm hatte lassen können.

Also, meine Freunde. Diese Parasiten auszuquetschen ist eine furchtbare Idee. Einfach die Finger davon lassen.

Dabei hielt ich mich selbst nicht einmal daran. Wirklich toll, wenn man anderen Ratschläge gibt - und entweder selbst keine Ahnung davon hat oder seine Ratschläge nicht einmal für sich selbst nutzt und befolgt.

"Ja", sagte ich also kurz angebunden in mein Handy. "Genau das ist es."

Noch ein weiteres Mal überprüfte ich mein Aussehen im Spiegel, dann schnappte ich mir das kleine Päckchen, das auf meinem Bett lag - während Lydia auf Lautsprecher gestellt auf meinem Schreibtisch lag -, und knotete noch eine Schleife darum. Aidans Geschenk würde erst jetzt unter den Tannenbaum kommen und ich hoffte inständig, dass es ihm gefallen würde.
Ich nahm das Handy wieder in die Hand und blickte auf die Uhrzeit. Es war Zeit.

"Ich muss jetzt auflegen, aber wir sehen uns morgen ja? Aidan sollte bald kommen."

Ich hörte Lydias Lachen am anderen Ende der Leitung. "Klar, alles gut. Viel Spaß euch beiden." Sie lachte wieder. "Und genau, wir sehen uns morgen. Schreib mir dann, wann du kommst."

"Mach ich", erwiderte ich und legte kurz darauf auf.

Jetzt war meine moralische Unterstützung - auch Lydia genannt - leider vollends weg und ich war alleine. Na ja... Eigentlich nicht ganz. Aber so fühlte ich mich gerade.
Eilig stieg ich mit Aidans Geschenk in der Hand die Treppenstufen hinab und flitzte ins Wohnzimmer, um es unter den Tannenbaum zu legen.
Zayn saß bereits - in ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Jeans gekleidet - auf der Couch und grinste in sein Smartphone. Ausnahmsweise bestand seine Frisur heute nicht aus seinen unordentlichen roten Locken. Er hatte sein Haar ein wenig gekämmt und gebändigt. Obwohl das bei seinem Haar nicht so ganz möglich ist.

Ich ging um die Couch herum und beugte mich über seine Schulter. "Mit wem schreibst du?"

Mein großer Bruder zuckte zusammen und schaltete das Handy sofort aus. Auf der Stelle ließ er es in seine Hosentasche gleiten und sah mich ein wenig ertappt an.

"Geht dich nichts an"

Ich wackelte mit den Augenbrauen. "Doch nicht etwa mit Lydia?", fragte ich. "Oder doch?"

Und als er wie zur Bestätigung auch noch rot um die Nase herum wurde, grinste ich ihn nur wissend an, bevor ich das Geschenk endlich unter den Baum legte, den wir erst eine Woche zuvor geschmückt hatten.
Die meisten Kugeln hatte Dad noch mit uns aufgehängt. Damals. Irgendwann in der Zeit, die man Vergangenheit nennt.

"Ich habe ihr nur Frohe Weihnachten gewünscht!", begann Zayn damit, sich zu rechtfertigen. "Das ist kein Grund, mir so verschwörerische Blicke zuzuwerfen."

"Du hast nur dein Handy wie der letzte Idiot angegrinst.", meinte ich schulterzuckend und ließ ihn im Wohnzimmer alleine, um Mum in der Küche zu helfen.

*

"Er geht nicht ran."

Panik brach in mir aus. Meine Handflächen begannen zu schwitzen und für einen kurzen Augenblick erfasste mich eine Art Schwindel. Das Herz pochte ängstlich schnell in meiner Brust und machte die ganze Situation nur noch schlimmer.
Zayn versuchte es noch ein weiteres Mal, doch auch ich, die neben ihm stand, hörte, wie die Mailbox anging. Auch ich hatte schon an die zehn Mal angerufen. Kein einziges Mal, hatte er abgenommen. Oder irgendjemand sonst. Die Nachrichten kamen nicht an - und auch seine Mutter war nicht zu erreichen.
Am Anfang hatten wir alle geglaubt, sie würden sich nur verspäten. Das passierte. Es war menschlich. Doch nach einer halben Stunde begann ich damit, mir den Kopf über Aidans Verbleib zu zerbrechen. Und als nach einer Stunde immer noch niemand hier war oder einen Anruf abgenommen hatte, war ich vollends ausgerastet. Mein Magen hatte sich schmerzhaft zusammengezogen.
Eine unendlich große Welle der Angst und Panik überkam mich und ich ließ mich von meiner Mutter in eine Umarmung ziehen.
Was, wenn etwas passiert war? Vielleicht war Aidan schwer verletzt. Oder Zoe. Oder Monica.

"Elina, hör mir zu. Das hat nichts zu bedeuten." Sie strich mir durch das rote Haar. "Wahrscheinlich ist ihnen nichts passiert und wir machen uns nur umsonst Sorgen."

"Und wenn doch etwas passiert ist?"

Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Etwas Vergleichbares hatte ich nur gespürt, als Zayn den Unfall gehabt hatte. Diese Panik. Diese unendliche Angst. Und das entsetzlich dumme Gefühl, nichts tun zu können. Absolut gar nichts an dieser verdammten Situation ändern zu können.
Dann zwang ich mich dazu, durchzuatmen.

*

Nachts lag ich wach im Bett.
Zayn, Mum und ich waren zu Aidan nach Hause gefahren, doch das Licht war aus gewesen. Es hatte kein Auto in der Einfahrt geparkt und niemand hatte diese verdammte Tür geöffnet.
Ich wälzte mich hin und her. Doch keine der Positionen schien gemütlich genug zum Schlafen. Fast so, als würde ich wie die Prinzessin auf der Erbse das winzige Ding unter meiner dicken Matratze spüren können. Natürlich war das Schwachsinn. Das hier war kein Märchen und ich war keine verdammte Prinzessin.
Wahrlich. So hatte ich mir Heiligabend nicht vorgestellt. Aufgelöst im Bett rumliegen, ohne schlafen zu können. Welch eine schöne Vorstellung.
Als mein Handy vibrierte, setzte ich mich sofort auf. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet. Hellwach.
Und dann freute ich mich ungemein, als ich Aidans Namen auf dem Bildschirm sah.
Das Lächeln verging mir allerdings, als ich die Nachricht sah, die er mir hinterlassen hatte.

Aidan: Das mit uns war ein Fehler. Tut mir leid.

Und nichts weiter. Nur diese beiden Sätze. Und eben diese beiden Sätze sind auch jene, die mein Herz entzwei brachen, die es zerrissen und die einzelnen Splitter in noch kleinere zerschmetterten.

Aidan: Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr treffen.

Die Worte trafen mich wie eine Ohrfeige. Schlimmer als eine Ohrfeige. So viel schlimmer. So viel schmerzhafter.
Die Tränen gingen in Wut über und in jener Wut schleuderte ich das Handy durch das Zimmer. Mit einem dumpfen Laut krachte es auf den Boden.
Ich hatte ihn herein gelassen. Ich hatte ihn verdammt nochmal in mein Leben gelassen. Und er hatte mich zerstört.
Zerschmettert.
Das traf es wohl am ehesten.

Zerschmettert Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt