Kapitel 21

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"Könntest du mich jetzt bitte loslassen?"

Meine Stimme klang unsicher, so unsicher wie ich sie nicht klingen lassen wollte. Und dieser Idiot? Er war entweder taub - oder er tat nur so als wäre er es, um mich zu ärgern. Denn er tat genau das Gegenteil von dem, worum ich ihn gebeten hatte. Seine Arme legten sich noch fester um meine Taille und zogen mich dichter an seine Brust, als nötig.
Und dann war da noch diese Reaktion meines Körpers, die ich in diesem Moment mehr als alles andere verfluchte. Mein Herz klopfte so schnell gegen meine Rippen, dass ich fürchtete, es könnte aus meiner Brust springen, und mein Atem ging so schnell, dass ich kaum glauben konnte, dass es wirklich ich war, die atmete. Was zur Hölle war los mit mir?

Ich legte die Handflächen gegen seine Brust und versuchte, ihn von mir wegzudrücken. Negro lachte nur, bevor er mich - endlich! - los ließ. Sofort trat ich mehrere Schritte zurück und versuchte ihn im Dunkeln mit meinen Augen zu fixieren.

"Und was machen wir jetzt?", flüsterte ich, während ich unruhig zum Fenster blickte.

Es schüttete immer noch wie aus Eimern und die Blitze und der Donner suchten den Himmel im Sekundentakt nacheinander wieder von vorne auf.

"Abwarten."

"Das ist dein grandioser Plan? Abwarten?"

Ich hörte ihn schnauben. "Fällt dir etwas Besseres ein, Madame?"

"Ach, sei doch still.", fauchte ich.

"Also nicht? Wusste ich es doch."

Ich sah seinen Schatten, der sich wieder in Richtung des Tisches bewegte. Kurz darauf hörte ich, wie er sich auf die Couch warf, die in der hintersten Ecke im Schatten der Bibliothek verborgen war.

"Willst du ewig beim Fenster rumstehen? Durch deinen magischen Blick wirst du das Gewitter nicht davon abbringen, uns hier festzuhalten."

Ich ballte die Hände zu Fäusten, versuchte mich dann allerdings ein wenig zu entspannen, und folgte seinem Beispiel und warf mich auf die Couch neben ihn.
Ein Blitz und das darauffolgende Grollen ließ mich zusammenzucken und für einen ganz kurzen Augenblick hatte ich den Wunsch, näher an ihn heranzurücken, obwohl all meine Prinzipien dagegen sprachen. Diesen Gedanken verwarf ich dann allerdings sofort und fokussierte mich auf meine gefalteten Hände in meinem Schoß.
Es war gespenstisch still hier. Negro sagte nicht. Ich sagte nichts. Nur der Donner nach den hellen Blitzen, die den Raum in ein unheimlich blaues Licht tauchten, polterte vor sich hin ohne Rücksicht auf mich - oder sonst jemanden.

Es war wirklich alles zum Kotzen in diesem Moment. Wieso hatte das Gewitter ausgerechnet heute kommen müssen? Wieso ausgerechnet dann, wenn ich ein Referat in der Schule mit Aidan Negro vorbereiten musste? Wollte mir mein Leben - oder mein wahnsinniges Glück - vielleicht etwas sagen?

"Ist dir kalt?"

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich zu zittern angefangen hatte - jedenfalls bis jetzt nicht. Tatsächlich war ich kurz davor, dass meine Zähne jeden Moment vor Kälte gegeneinander schlagen würden. Was war denn mit der Heizung passiert? Oder war sie auf mysteriöse Weise auch plötzlich ausgefallen? Wie das Licht.
Ein Scheiß-Tag. Was soll man noch dazu sagen.

"Ein wenig, ja", erwiderte ich und - ehrlich - ich habe keine Ahnung, wieso ich überhaupt flüsterte.

Ich würde ja schließlich nicht den Donner oder den Regen damit unterbrechen.
Genau in dem Moment, in dem er mich ansah, erleuchtete ein weiterer Blitz den Raum mit den vielen Bücherregalen und ließ das Weiße in seinen Augen irgendwie gespenstisch wirken. Und gleichzeitig leuchtete sein Gesicht wie das eines Engels.

Wohl eher wie das eines Teufels, dachte ich und wandte den Blick von ihm ab.

Doch dann - dann tat er etwas, was ich niemals von ihm erwartete hätte. Ich meine ja, Aidan Negro konnte ein Arschloch sein, doch das... gehörte nicht zu dieser Arschloch-Seite, schätze ich. In diesem Moment war er irgendwie... anders. Nicht so verdammt schlecht gelaunt und arrogant wie immer.

Jedenfalls zog er mich mit einem Ruck zu sich heran, legte einen Arm um mich und legte sein Kinn auf meinen Kopf. Und während der werte Herr über meine Arme rieb, um die Kälte zu vertreiben, saß ich mit weit ausfgerissenen Augen - an seine Brust gedrückt - direkt neben ihm. Auch mein Mund war immer noch offen - so überrascht und schockiert war ich gleichzeitig, sodass ich kein Wort heraus bekam.

"Was denkst du, was du da gerade tust?", wandte ich mich immer noch ein wenig fassungslos an ihn. So fassungslos, dass ich mich unter seinen Berührungen immer noch nicht bewegt hatte.

Er lachte leise. Es war kein spöttisches oder fieses Lachen - dieses war aufrichtig. "Die Kälte vertreiben."

"Dafür hättest du nicht... du musst mich dafür nicht anfassen. Geht schon."

Ah, da war ja mein angefressener Stolz wieder. Ich konnte Willkommen-zu-Hause-Party mit ihm feiern. Kurz hatte ich nämlich gedacht, mein Stolz hätte sich für immer verabschiedet.

"Ach nein?", raunte er mir ins Ohr und es bildete sich eine Gänsehaut in meinem Nacken.

"N... Nein." Ich holte tief Luft. "Nein, musst du nicht.", wiederholte ich dann erneut - dieses Mal mit fester Stimme.

"In Ordnung" Er ließ mich los, rückte ein wenig von mir ab und sah zu mir.

Und sofort wurde mir noch kälter - ganz so, als wäre ich mitten im Winter auf die grandiose Idee gekommen, mitten in der Nacht in einem kalten See schwimmen zu gehen. Das hier war das Aussteigen aus der Kälte in eine noch kältere Kälte. Und das ohne Handtuch. Okay, womöglich übertrieb ich es. Ein wenig vielleicht.

Und das, was ich dann sagte... Ich weiß immer noch nicht, wie ich überhaupt hätte darauf kommen können. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Irgendwas musste Löcher in mein Gehirn gefressen haben und das war eine ernste Angelegenheit.

"Ich nehme es zurück... Mir ist kalt."

Ich sag's ja... Komplett bescheuert. Schlimmer geht nicht mehr - obwohl: schlimmer geht immer...

Ich konnte sein selbstgefälliges Grinsen in der Dunkelheit, die uns immer noch wie ein dunkler Vorhang umgab, quasi spüren.
"Dann komm her" Aidan streckte den Arm nach mir aus und nach kurzem Zögern lehnte ich mich wieder gegen ihn.

Er war so warm wie ein Ofen - wie sich immer das bei diesen Temperaturen funktionierte. Und das Schlimme daran: ich überlegte nicht einmal, was ich tat, was wir taten. Ich saß einfach auf der alten Couch in der alten Bibliothek der Schule in... Aidan Negros Armen.

"Ich habe Zayn nicht mit Absicht gerammt.", flüsterte er nach wenigen Sekunden. "Es... ging alles so schnell und wir beide hatten keine Zeit zu reagieren. Ich habe die Kontrolle über mein Motorrad verloren gehabt... Hätte ich nicht ihn gerammt, wäre ich gegen einen Baum gefahren."

Es brauchte kurz, bis die Information in mein Hirn vorgedrungen war. "Zayn... hat dir mit dieser Aktion das Leben gerettet.", stellte ich fassungslos fest.

Aidan nickte. "Und seines dafür riskiert. Er wusste, was er tut, Elina."

Zayn hatte... sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Aidan vor einem tödlichen Unfall zu bewahren. Er hatte nicht überlegt, einfach instinktiv gehandelt. Und für mich hatte es so ausgesehen, als hätte Aidan meinen großen Bruder mit Absicht gerammt, um zu gewinnen. Für mich hatte es nach einem egoistischen Arschloch ausgesehen.

"Es tut mir leid, Aidan." Es war das erste Mal, dass ich ihn bei seinem Vornamen nannte, glaube ich. "Ich... ich wusste das nicht... Ich dachte..."

"... dass ich ein egoistischer Soziopath mit keinerlei Moral bin, der sich verhält wie das letzte Arschloch auf Erden.", unterbrach er mich.

"Genau ins Schwarze getroffen."

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Hättet ihr erwartet, dass Zayn Aidans Leben gerettet hat?
Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen. Bis zum nächsten Mal <3

Zerschmettert Where stories live. Discover now