132. Ein schmerzhafter Weg zurück

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Das Zeppelin – es schwebte über die Trümmer der Stadt hinweg und offenbarte mit seinen Lichtern das wahre Ausmaß der Zerstörung. Ich katapultierte mich hinauf, griff nach eines der Netze, die an den Seiten befestigt waren, und blickte zurück. Auch diese Stadt war einmal mein Zuhause gewesen. Auch diese Menschen, die uns heute zum Opfer gefallen waren, hatte ich vielleicht einmal auf der Straße getroffen – bei ihnen ein Eis gekauft oder sie unbewusst angeschaut, weil sie laut gelacht hatten. Doch sie alle waren nicht mehr. Sie alle waren fort, so wie viele andere, die unschuldig in den Krieg hineingesogen wurden. Es war am Ende immer und überall das Gleiche gewesen. Die gleichen Schreie, die gleichen Spuren und das gleiche Leid.

Ich wandte meinen Blick ab und sah hinauf. Armin reichte mir seine Hand, die ich packte, sodass er mich hochzog.
„Seid ihr in Ordnung, Teamführerin -dNN-?" ,fragte er mich. Ich nickte nur, während ich zu Levi sah, der bereits mit Sieg hier war. Auch er blickte kurz zurück, als er meinen Namen hörte, doch wir beide blieben stumm. Da war nichts, was wir einander sagen wollten. Vielleicht auch nichts, was wir zeigen konnten. Nichts, außer diese Stille, die zwischen uns seit zwei Tagen meist herrschte.

„Eren und Mikasa kehren zurück" ,verkündete Armin, der immer noch in der Hocke saß. Mein Körper zuckte zusammen, als ich das Knistern in der Luft spürte. Levi schritt gezielt auf Armin zu. Sein Blick war voller Wut, als er neben dem jungen Mann stehen bleib und hinunterstarrte. Ich wusste genau, auf wen er wartete. Ich wusste genau, wer diesen Brand in seinem Kopf entfachte.

„Mann, bist du dreckig... Du siehst aus, als wärst du in eine Güllegrube gefallen, Eren." , begrüßte Levi unseren lang verschollener Kamerad, der das Schiff kriechend betrat. Er wirkte ungepflegt, angeschlagen, beinah kraftlos und blickte starr in unsere Gesichter.
„Hauptgefreiter..." ,sagte er zu seinem Teamführer, doch es war kein weiteres Wort, welches Levi über den Lippen kam. Keine freundliche Geste, die er seinem Teammitglied schenkte. Im Gegenteil – ein plötzlicher Knall hallte durch den Raum. Levi trat Eren ins Gesicht – mit voller Kraft – und schleuderte ihn gegen die Wand. Ich sah zu. Es berührte mich noch nicht mal, denn ich wusste genau, wie er sich fühlen musste. Wie sehr wir von Eren in die Ecke gedrängt waren und wie viel wir dadurch erlitten hatten - es war uns allen bewusst. Selbst Mikasa und Armin, die ihrem Freund nicht zur Hilfe eilten.

„Da werden Erinnerungen wach... Es ist nach wie vor eine Freude, dich zusammenzutreten, Eren." ,warf Levi ein. Er ging einige Schritte auf Eren zu, während er mir ein Handzeichen gab. Ich zog meine Maschinenpistole und zielte auf unseren neuen Gefangenen. Das Vertrauen zu ihm war gebrochen.
„Wir nehmen dich zunächst einmal fest, Eren..." ,meinte ich nur, wobei ich seinen Kopf ins Visier nahm. Diese eine Schwachstelle, die er haben musste.
„Von mir aus... Aber es steht alles in meinen Briefen. Deshalb dachte ich, sie würden es verstehen." ,meinte dieser fast schon müde. Ich senkte meinen Blick, auch wenn meine Waffe immer noch auf ihn gerichtet war. Diese Augen, die uns ansahen. Sie waren kaum zu ertragen. So leer und so angsteinflößend.

„Hackfressen wir deine... hab ich bis zum Erbrechen gesehen. Aber dass du auch so bist..." Levi seufzte. Ein gewisser Druck war aus ihm herauszuhören. Er trug ihn tief in sich, erkannte ich doch an seiner Stimme, dass er nicht nur voller Wut sondern auch Trauer war. Die Trauer darüber, von jemanden enttäuscht worden zu sein, den man irgendwann einmal vertraut hatte. Den man in der Hoffnung geschützt hatte, mit ihm den richtigen Weg einzuschlagen. Mein Blick wanderte zum Boden.

„Du weißt gar nicht, was uns das alles gekostet hat, Eren... Tja, dann jubelt schon. Ihr habt euren Willen bekommen..."

Es stach in meinem Herzen.
„Was es uns gekostet hatte..." ,dachte ich, um zu erkennen, was Levi gemeint hatte. Meine Hände begannen zu zittern. Der Gedanke, den Abzug drücken zu wollen, um diesem Mann vor mir den Kopf weg zu sprengen, drängte sich in mir auf. Dieser Wunsch, meine Wut an ihn auszulassen und ihn als Schuldigen für mein Leid zu erwählen, um weder meinen noch Levis Fehler weiter ertragen zu müssen, erblühte in mir, obwohl ich erkannte, dass es nicht fair war. Nicht richtig war, so zu denken. Und dennoch - meine Augen zogen sich zusammen, während ich meine Zähne voller Hass zusammenbiss. Doch dann hallte ein lauter Schuss durch das Luftschiff.
Ich zuckte zusammen und blickte erschrocken zu Levi. Warum suchte ich gerade in ihm Orientierung?

„Sie haben Kenny getroffen!" ,hörte ich ein Rufen. Connie kam herbeigeeilt. Er sah uns geisteslos an.
„Los geh! Er ist dein Teammitglied!" ,befahl Levi nun.
„Was?" Meine Augen weiteten sich. Doch ohne ein weiteres Wort rannte ich los, nachdem ich Levi schweigend meine Waffe in die Hand gedrückt hatte. Warum ich das getan hatte, konnte ich im Nachhinein noch nicht einmal nachvollziehen, doch ich kehrte nicht um. Ich drückte mich nur eilig durch meine Kameraden, bis ich ihn entdeckte: Kenny.

Er lag in seinem eigenen Blut getränkt. Durchbohrt von einer Kugel, hielt er eine Hand vor der Wunde und blubberte ein wenig vor sich hin. Seine Augen waren bereits leicht vernebelt. Sie kündigten sein Ende an.

„Holt jemand den verdammten Hauptgefreiten!" ,schrie ich in den Raum, während ich mich zu dem alten Mann niederkniete. Ich griff mit einer Hand behutsam unter seinen Nacken, um ihn leicht hochzuheben. Seine Finger bohrten sich in meinen Arm – bereits geschwächt und dennoch war in ihm noch eine gewisse Kraft zu erkennen. Wie sollte es auch anders sein? Er war immerhin einer von ihnen.

Ich musterte sein Gesicht – dieses Gesicht, welches mich so oft verspielt angegrinst hatte. Ja, vielleicht hatte ich diesen Mann auch irgendwie gemocht. Immerhin war er derjenige gewesen, der dieses eine Kind gerettet und zum Überleben erzogen hatte. Dieses eine Kind, welches für eine gewisse Zeit als mein Gefährte an meiner Seite gelebt und mir eine Tochter geschenkt hatte. Und er hatte sich um Levi Sorgen gemacht – noch immer – auch wenn er es selbst niemals zugegeben hätte.

„Kuchel...Kuchel wäre stolz auf euch..." hauchte er heraus. Ich starrte ihn an. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Er wusste doch genau, dass es zwischen mir und Levi aus war und dennoch wagte dieser alte Sack, so etwas zu sagen. Schwerfällig schluckend, sah ich prüfend um mich. Mein Warten fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Doch der schwächer werdende Griff Kennys, führte meinen Blick zurück zu ihm.
„Kenny, einen Moment...Tue mir das nicht an! Levi ist gleich..."
„So ein Knirps..." hauchte er noch.

Und dann entschwand er mir. Seelenruhig und ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Seine letzten Worte – sie klangen in meinen Ohren nach, während ich ihn einfach ansah. Seine Augen waren auf einmal ganz glasig, ihr Schimmern für immer verschwunden. Ich blickte in ein Gesicht, welches plötzlich so friedlich aussah. So als sei Kennys dreckige Seele bereits aus diesem Körper verflogen.

Schwere Schritte neben mir zwangen mich aufzublicken. Verschwommen erkannte ich diesen einen Schatten. Diese Silhouette, die nun bewegungslos neben mir stand. Zurückhaltend und zart wirkend ging sie in die Hocke.
„Du bist zu spät, Levi..." ,stotterte ich, während ich meine Augen von den Tränen befreite. Sein Blick lag auf dem Körper seines Onkels. Mit leicht geöffneten Mund schien er fast in Trance zu sein, bis ihn die Realität packte.
„Scheiße..." ,flüsterte er und griff an mir vorbei, um Kennys Augen zu schließen, nachdem ich ihn vorsichtig abgelegt hatte. Ich seufzte. Wir hielten kurz inne, starrten diesen Mann an, der uns so viele Probleme bereitet hatte und trauerten. Ja – wir trauerten um diesen Idioten, so als wäre er ein guter Mensch gewesen und vielleicht war dies auch - irgendwo, ganz tief in seinem Herzen versteckt.

Ich schluckte angestrengt und atmete tief durch.
„Er hat gesagt, dass deine Mutter stolz auf dich wäre..." ,meinte ich, während ich aufstand. Mein Blick wanderte über meine Kameraden hinweg. Niemand schien mir widersprechen zu wollen. Niemand korrigierte diese Lüge, doch mein Herz brüllte, so als wollte es die Wahrheit verlangen. Diese eine Wahrheit, die ich nicht aussprechen konnte, weil es sie einfach nicht mehr gab.

„Hat er das..." ,seufzte Levi. Auch er stand auf, um mir meine Maschinenpistole in die Hand zu drücken. „Sowas brauche ich nicht..." ,warf er noch ein und ging, um mich mit der Leiche seines Onkels zurückzulassen. Ich starrte ihm nach. Starrte auf diese Schultern, die so zerbrechlich wirkten. Auch wenn Levi kaum seine Trauer zeigte, wusste ich, dass es in ihm ganz anders aussah. Ich kannte sie nur zu gut: Diese Art, seine Emotionen zu unterdrücken, um sie irgendwann zu ertragen. Dort, wo niemand ihn sah. Dann, wenn niemand seine Hand halten würde. Einsam und allein, so wie er es vor unserer gemeinsamen Zeit gelernt hatte.

„Teamführerin -dNN-, es tut mir leid... Er hat mich zur Seite..." Meine Augen folgten der Stimme, die plötzlich neben mir nach den richtigen Worten suchte. Es war Sasha. Sie war aufgebracht, fummelte an ihrer Ausrüstung und stotterte vor sich hin.

Irgendwie schien sie etwas zu beschäftigen und ich konnte mir bereits denken, was es war. Der alte Sack hatte am Ende doch wirklich den Helden gespielt. Ohne mir ihre wirren Worte weiter anzuhören, unterbrach ich die junge Frau, indem ich meine Hand auf ihre Schulter legte, wobei ich sie eindringlich ansah.
„Erzähle es später dem Hauptgefreiten! Ihm ist das sicher wichtiger als mir..." Ich klopfte ein paar Mal auf ihren Rücken, bevor ich meinen Umhang löste. Langsam ließ ich ihn auf Kenny niederschweben, bis er sein Gesicht und seinen Oberköper verhüllte. Es war alles, was ich noch für ihn tun konnte. Für ihn und diesen Mann, der ein weiteren Teil seines Lebens hinter sich gelassen hatte.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt