109. Schatten der Vergangenheit

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Kenny griff nach einer Pistole und betrachtete sie. Sein Grinsen verriet seine Gedanken – ihm gefiel, was er sah.
„Was haben wir denn da? Ziemlich heißes Spielzeug habt ihr mitgebracht." äußerte er sich gegenüber Lina und Onyankopon. Die Beiden zeigten uns, welche Waffen sie für unsere Mission anbieten konnten. Ich blickte genervt zu Levi und wandte mich dann an seinen Onkel.
„Wenn du so weiter rumgrinst, nehme ich sie dir wieder weg..." stachelte ich.
„Wer meinst du, wer du bist? Meine Mutti?" Ich lachte laut auf.
„Nein, nur deine Vorgesetzte." verbesserte ich ihn.

„Der Scheiß ist kaum auszuhalten..." zischte Levi und betrachtete dabei selbst eines der Gewehre, die sich vor allem durch ihre Präzession von den Schusswaffen der Insel unterschieden.
„Nun, ich würde sagen, wir nehmen vier Pistolen und zwei der Gewehre. Das müsste reichen." schlug ich vor.
„Ich brauche davon nichts..." Der Gefreite legte die Waffe zurück. Seine Finger glitten über den Lauf hinweg. „Für einen Überfall brauche ich keine Schusswaffe..."

„Ach, der Knips und seine altmodischen Methoden..."
„Egal, es bleibt bei der Anzahl, wenn ihr uns diese zur Verfügung stellen könnt, wäre das eine große Hilfe." erklärte ich.

Onyankopon stimmte zu:
„Das sollte kein Problem sein, -dN-. Wann wollt ihr aufbrechen?"
„Heute Nacht."
„Gut, dann bereiten wir alles vor. Ich werde das Beiboot steuern. Wir werden den Großteil der Strecke damit zurücklegen." meinte mein alter Bekannter und lächelte. „Wer wird dich begleiten?"
„Mein gesamter Trupp und der Hauptgefreite."
„Und das soll reichen?" warf Lina ein. Sie richtete eine Strähne ihres Haars, während sie mich skeptisch anblickte.
„Das wird es. So wenige wie möglich, so viele wie nötig... Lina. Umso mehr Platz haben wir für Waffen auf dem Boot. Habt ihr eigentlich Granaten dabei?"
„Für was?" stellte Lina als Gegenfrage. Ich seufzte.
„Für was wohl? Wir sprengen das Lager in die Luft!"

Hinter mit hörte ich ein lautes Lachen.
„Deine Schnecke gefällt mir immer besser, Knirps." meinte Kenny zu seinem Neffen.

Im Gegensatz zu mir, die diese Aussage nur mit einem Seufzen abtat, schien Levi bereits sichtlich genervt zu sein. Er starrte weiter auf die vor uns liegenden Waffen, wobei er den Blicken seines Onkels auswich. Es deprimierte mich.

Eigentlich hatte ich den Plan gehegt, dass die kommende Mission mir einen Beweis für die Nützlichkeit dieses Mannes liefern würde. Vielleicht hatte ich sogar die Hoffnung gehabt, dass Kenny sich auf eine ganz besondere Weise bewähren würde und ich so einen starken Kämpfer für unsere Seite gewonnen hätte. Doch mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, ob meine Idee einen Sinn hatte. Immerhin war dies Kennys Chance, ein wirkliches Mitglied meines Trupps zu werden. Eine Chance, die ihn allen Anschein kaum interessierte oder zumindest für ihn keinen Wert hatte. Ich ballte meine Hand zur Faust. Für was hatte ich mir dann all die Mühe gemacht? Für was die Gespräche und die Reise auf mich genommen, um ihn hierher zu holen?

Levis Hand berührte meine Schulter. Ich blickte zu ihm zurück, entdeckte wie er hinter mir stand und löste meine Faust. Wahrscheinlich war ihm mehr als Bewusst, dass ich Kenny nicht nur auf Grund seines Könnens in meinem Trupp aufnehmen wollte. Er wusste genau, dass ich hoffte, ihm dadurch die Möglichkeit einer Annäherung zu bieten. Doch wollte er dies überhaupt?

Wenn ich an meinen Vater dachte – an den Mann, der mich auf eine ganz andere Art verletzt hatte, als Kenny es mit seinem Neffen getan hatte – erkannte ich, dass ich mir keine Versöhnung wünschte. Eigentlich sehnte ich mich nach Ruhe vor dieser Person. Eigentlich wollte ich aus den Schatten der Vergangenheit hinaustreten und voranschreiten, statt weiter darüber nachzudenken. Doch wie ging es Levi damit? Wie empfand er gegenüber Kenny? Ich seufzte leise in mich hinein. Wusste ich doch überhaupt nichts über die Beziehung zwischen den Beiden mit Ausnahme der Tatsache, dass Kenny eine gewisse Zeit über Levi gewacht hatte. Wie genau sich ihre Wege getrennt hatten und warum - das alles lag für mich im Verborgenen.

„Was?" fragte Levi, als ich ihn noch immer anstarrte. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich an die Gruppe:
„Wir treffen uns heute Abend bei Dämmerungsanbruch am Steg. Onyankopon, die Waffen müssten dann mit ausreichender Munition zur Verfügung stehen!"
„Jawohl." rief unser Verbündeter aus. Lina stöhnte genervt.
„-dN-, ich muss noch etwas mit dir besprechen!" sagte sie und blickte dabei vor allem zu Levi. „Unter vier Augen."

Levis Hand – es war ein kurzer Moment, in dem sie sich in mein Fleisch drückte, nur um dann von meiner Schulter abzulassen. Die Wärme verschwand.

Eilig griff ich nach seinem Hemd. Ich drückte meine Finger in den Stoff und zog daran. Ihm nochmals das Gefühl zu geben, dass er gehen musste, kam für mich nicht in Frage. Lina hatte zu akzeptieren, dass er an meiner Seite war – dass er ein Teil von mir war. Dieses eine Puzzleteil, was so lange gefehlt hatte und mich nun vervollständigte. Was mich vielleicht sogar auf eine gewisse Weise zusammenhielt.

Onyankopon und Kenny verließen den Raum, während Levi auf meine Hand starrte.
„Bleib bei mir!" flüsterte ich ihm zu, bevor ich mich dann an meine frühere Freundin wand:
„Um was geht es, Lina?"
Die Schwarzhaarige fummelte an ihren Haarspitzen und musterte mich. Die Erkenntnis, dass ich ihr kein Gespräch nur unter uns bieten würde – sie ließ ein wenig auf sich warten.
„Dann eben so..." seufzte sie nach kurzer Zeit heraus, um daraufhin zu fragen: „Hast du dich schon entschieden, ob du mit nach Hause kommst?"

„Na ja...kommst drauf an, ob es einen Rückweg gibt." antwortete ich, wobei ich von Levis Hemd abließ, um mich auf dem Tisch abzustützen. Mit meinem Finger strich ich über die glatte Oberfläche, während ich auf eine Klärung wartete.
„Den gibt es. Auch wenn das eigentlich nicht das Ziel war."
„Das heißt?" hakte ich nach.
„Ich werde drei, vielleicht vier Tage in der Heimat bleiben und dann hierher zurückkehren. Das ist mit Yelena so abgesprochen. Ich bringe dann auch neue Munition und andere Dinge mit..." erklärte Lina.
„Und was war der Plan meines Vaters?"
„Dich dort zu behalten. Soweit ich weiß, will er dich aus dem Militär ziehen... Du warst lange genug weg, -dN-."

Ich seufzte laut. Es war ein Druck, der in meiner Brust aufkam und mir bereits jetzt verriet, dass diese Reise keine sonderlich gute Idee war.
„Plant er mich abzuholen?"
„Natürlich."
Ich sah ihn in Gedanken vor mir. Diesen Mann, der seinen Schatten immer schon auf mich geworfen hatte, um meine Sicht zu trüben. Er, der mir so wenig Raum gelassen und meine eigenen Entscheidungen nur schwerfällig akzeptiert hatte, versuchte mich wieder in seine Fänge zu bekommen. Jetzt, wo er an Macht gewonnen hatte. Jetzt, wo er die Möglichkeit einer Hochzeit ausgekoren hatte, wollte er mir einen neuen Pfad zeigen, den ich gehen könnte, um der Familie zu dienen. Um ihm zu dienen.

Ich verzog mein Gesicht. Allein die Idee, seinen Wunsch zu erfüllen, ließ in mir eine Übelkeit aufkommen. Doch trotz allem konnte seine Position der Schlüssel zu einer neuen Stärke für Paradies werden. Er konnte meine Heimat vielleicht zu einem aktiven Eingreifen gegen Marley überzeugen oder die Schwächung des Staates durch Sanktionen herbeiführen. Egal, was er tun würde, wir könnten jede Hilfe gebrauchen. Die Frage war nur, was der Preis dafür wäre? Was würde er von mit verlangen?

Mein Blick wanderte zu Levi. Er schwieg und hörte gespannt zu.
„Du kommst mit mir, oder?" fragte ich plötzlich. Levi nickte nur, doch es war alles, was ich benötigte.
„Wir werden mitkommen, Lina." meinte ich in dem Bewusstsein, dass sie diese Antwort nicht zufriedenstellen würde. Doch Lina akzeptierte meine Entscheidung. Immerhin verstand sie im Gegensatz zu meinem Vater, dass es sich für mich nicht um eine Reise nach Hause handeln würde.

Letztendlich war ich doch schon lange keine mehr von ihnen, auch wenn ich mich niemals als Frau des Volkes Ümir bezeichnen würde. Ich fühlte mich als etwas dazwischen. Als jemand, der eine Grenze überschritten und damit die eigene Herkunft hinter sich gelassen hatte, ohne dabei eine neue Zugehörigkeit erhalten zu haben. Doch es störte mich nicht. Am Ende diente ich einem Volk, welches schon viel zu lange unterdrückt war. Schon viel zu lange auf Hilfe gewartet hatte. Schon viel zu lange in Vergessenheit versank.

Doch dies sollte sich ändern. Diese eine Sache wäre bald vorbei und ich musste tun, was ich konnte, um den Lauf der Dinge zu beschleunigen – vielleicht sogar in eine gute Richtung zu lenken. Und so tat ich es mit voller Hingabe und wahrscheinlich sogar mit meinem ganzen Herzen.

„Und du bist Schuld daran!" dachte ich insgeheim und sah zu Levi. Meinen Vater davon zu überzeugen, dem Volke Ümirs zu helfen war eine Sache. Ihm jedoch gleichzeitig zu gestehen, dass ich bereits meine Wahl getroffen hatte, eine ganz andere. In meiner Brust kribbelte es. Die nächste Mission würde eine Herausforderung sein, doch was mich in meiner Heimat erwarten würde, war mehr als nur das. Es würde zur entscheidenden Wende in meinem Leben werden – dem war ich mir sicher. 

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt