119. Eine Eingebung aus einer anderen Zeit

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Der nächste Tag begann. Dieser eine Tag, in welchem ich Hanji und Levi so viel wie möglich zeigen wollte, wobei meine Liste viel zu lang war und die Entscheidung darüber, was ich streichen müsste, mir schwerfiel.

Wir saßen am Frühstückstisch im Speisesaal des Hotels, in welchem Lina uns untergebracht hatte. Das Buffet war reichlich gedeckt, sodass Hanji und ich mehrmals herüberliefen, um uns an allem zu bedienen, was irgendwie appetitlich aussah. Hanji setzte dabei ihren Schwerpunkt auf Ausprobieren, während ich das mir bekannte auswählte, um die Aromen meiner Kindheit ein weiteres Mal erleben zu können. Es war herrlich.
"Wenn ihr so weiter schaufelt, sitzen wir hier morgen noch..." ,warf Levi ein, als wie Beide uns setzten und mit der zweiten Runde begannen. Er trank eine Tasse Tee, nachdem er sich an den Brötchen versucht hatte, von welchem er den Großteil an Kuchel abgegeben hatte. Hinsichtlich ihres Hungers schien die Kleine nach mir zu gehen.
"Gleif ferrig" ,rief Hanji mit vollem Mund aus. Ich musste grinsen, während ich angestrengt schluckte.
„Hol dir auch noch was, Levi! Wer weiß, wann wir noch zum Essen kommen!" ,schlug ich vor, bevor er wieder einer seiner Kommentare hinsichtlich Tischmanieren einwerfen konnte. Ich wusste, dass er bereits kurz davor war.
"Schon gut..." Levi sah zu Kuchel, zupfte ein wenig an ihrem Rock, um die Krümel von ihrer Kleidung zu entfernen, während er einen Schluck seines Tees trank. "Was haben wir heute vor?"

Ich lächelte.
"Also, ich wollte mit euch in die große Einkaufsstraße und da einige Läden abklappern, dann den riesigen Stadtpark besuchen und dann auf jeden Fall noch ins Kino" ,erklärte ich, wobei ich die Dinge an meinen Fingern abzählte, "vielleicht schaffen wir es auch noch, den Flughafen zu besuchen und eigentlich würde ich auch noch gern mit euch ins städtische Museum und..."
"-dN-, eins nach dem anderen!" ,unterbrach mich Levi. Er sah mich skeptisch an, sodass ich seinem Blick auswich, nur um Hanjis Strahlen zu entdecken. Ihr Auge war aufmerksam und voller Begeisterung.
"Das klingt wunderbar" ,rief sie auf, wobei sie einige Gebäckstückchen in eine Servierte packte, um sie dann in einer kleinen Tasche zu verstauen.
"Ääh, Hanji..." ,stotterte ich, doch das Bündel war bereits verschwunden.
"Ich bin bereit!" ,meinte Hanji als Aufforderung. Sie stand auf, griff nach ihrem Mantel und fragte dann im halben Vorbeigehen: "Wo gehen wir als erstes hin?"


Nach kurzer Überlegung hatte ich den Stadtpark als Startpunkt unserer Städtetour gewählt, da dieser sich einerseits nicht sehr weit vom Hotel befand, andererseits ein schöner Ausflugsort für Kuchel war. Immerhin sollte die Kleine ebenfalls Spaß haben.

Wir betraten den Park, der jetzt im Sommer in den schönsten und kräftigsten Farben erstrahlte. Rote Rosen, gelbe Sonnenblumen, violetter Flieder - sie alle schmückten die Wiesen und Beete mit ihrem Dasein. Levi ließ Kuchel runter, sodass sie über das Gras rennen konnte, und atmete daraufhin tief ein. Gemächlich gingen wir einen der Wege entlang - wir schlenderten förmlich - nur um ein wenig die Ruhe von den Straßen zu genießen. Doch dann hörte ich eine schrille Melodie.

"Wir müssen unbedingt dorthin!" ,meinte ich, während ich meine Schritte beschleunigte und es bereits entdeckte: Das Stadtkarussell.

"Mama, da!" ,rief Kuchel, nachdem sie ihren Blick von eines der Blumenfelder abgewandt und dabei das bunte Fahrgeschäft entdeckt hatte. Sie lief los.
"Scheiße..." ,fluchte Levi noch, bevor er ihr hinterherrannte.
"Ich will auch damit reiten!" Hanji grinste mich an. "Kommst du mit?" ,fragte sie mich noch, um dann ebenfalls loszulaufen. Ich schmunzelte.

Natürlich folgte ich ihnen. Natürlich lief auch ich den Weg entlang und spürte dabei dieses Kribbeln im Herzen, nur um kurz darauf von Levi auf den Boden der Tatsachen gestellt zu werden.
"Das ist nicht euer Ernst?" , schimpfte er, als Hanji sowie ich gemeinsam mit Kuchel uns auf eines der Stahlpferde setzten, die durch eine Stange mit dem Boden und dem Dach des Karussells verbunden waren. Er stand vor dem Fahrgeschäft, hatte seine Arme verschränkt, nur um mich mit seinem wütenden Blick anzustarren.

„Nur eine Runde" ,rief ich zu ihm herüber und blickte zu Kuchel. Auch wenn sie echte Pferde kannte, zog das farbenfrohe und fast schon märchenhaft gestaltete Fahrgeschäft sie magisch an. Sie wippte mit ihren Beinen, bis sie die Arme in die Luft warf, als es endlich losging.

Die Pferde begannen ihren Tanz, indem sie taktvoll auf- und abwippten, die Musik begleitete das Drehen, und das Lachen der Kinder schallte durch den Wind, der uns nun ins Gesicht peitschte. Hanji jubelte mir zu. Sie saß nur einige Pferde weiter von uns, hielt sich mit einer Hand an der Stange fest, während sie mit der Anderen bei jeder Runde Levi zuwinkte. Ich kicherte vor mich hin. Dieser Moment, den wir gerade erlebten - er war so unglaublich unbeschwert. Er war so unglaublich normal.

"Hätte ich euch nur hier treffen können..." ,dachte ich mir plötzlich. "Wärt ihr bloß hier geboren worden..."

In meinem Hals bildete sich ein Knoten. Die Wahrheit versuchte mich einzuholen. Sie versuchte mir diese Unbeschwertheit zu nehmen, nur um mir die kalte und schmerzhafte Realität vorzuhalten. Doch ich sah weg. An dem heutigen Tag wollte ich einfach nur die Zeit mit meiner Familie und einer guten Freundin genießen, denn so groß unsere Pflichten auch sein mochten, wir hatten das Recht ein wenig Glück zu spüren. Es förmlich in uns einzusaugen, nur um es vielleicht in unserem letzten Moment unseres Seins hervorzuholen, um daran denken zu können und uns damit zu trösten.

Ich entdeckte einen blauen Schmetterling – ganz plötzlich. Er folg mir entgegen, schwebte zu der dröhnenden Melodie und landete auf meiner Hand, die ich zu ihm ausstreckte, so als hätte er dies alles geplant gehabt. Ich betrachtete das Blau der Flügel, welches so sehr schimmerte, dass es mich beinah blendete. Was für ein seltsamer Anblick dies war. Solch einen Falter hatte ich noch nie gesehen. Doch dann begann sich die Musik zu verzerren. Sie zerlief in meinem Kopf wie heißes Quecksilber – taktweise schwindend. Immer weiter schien sie sich zu entfernen, während das blaue Licht mein Sichtfeld einnahm und das Jetzt verdrängte.

Warum sah ich plötzlich das Meer? Warum hörte ich die Möwen singen, obwohl ich doch noch immer in diesem Karussell sitzen musste? Ich verstand es nicht und dennoch machte es mich neugierig.

Mein Blickfeld veränderte sich. Es war so, als würde ich mich umdrehen, obwohl ich dies gar nicht wollte. Als würde ich einen Film sehen, der mir vorgespielt wurde, konnte ich nur beobachten und nicht eingreifen – egal wie sehr ich es auch versuchte.

Ich sah einen modernen Steg, große Gebäude, welche denen in Marley glichen, und ihn – Levi. Er saß in einem Rollstuhl, las eine Zeitung und wirkte dabei konzentriert. Sein Gesicht gezeichnet von unzähligen Narben wirkte blass, so als hätte er mal wieder nicht genug geschlafen. Ich spürte eine Aufregung in mir. Eine Aufregung, die nicht das war, was ich erwartet hatte – weder Sorge noch Betroffenheit.

Langsam schritt ich auf ihn zu. Meine Augen musterte ihn, beobachteten das Haar, welches so wundervoll im Wind wehte und mir entgegenglänzte, wie es nur das seine vermochte. Meine Beine wirkten ganz leicht, fast schon so als wollte ich tanzen. Doch trotz dieses Bewegungsdranges, der in mir aufkam, blieb ich stehen und starrte auf ihn hinunter, nur um seine Stimme zu hören – mal wieder oder das erste Mal - ich konnte es nicht einschätzen.

„Kennen wir uns?" ,fragte er, während er seinen Blick hob. Eines seiner Augen hatte seinen Glanz verloren, doch das andere sah mich nun skeptisch an.

„Ich glaube nicht..."
Das war meine Antwort. Meine - die doch genau wusste, dass es nicht stimmte. Ich fühlte den innerlichen Druck in mir. Diese Situation war falsch. Es war nicht wahr, nicht die Realität, nicht mein Leben – nicht dieses. Doch trotzdem fühlte es sich so real an. Wie ich mich vorbückte und den Wind dabei in meinem Haar spürte. Wie ich meine Hand leicht ausstreckte, um mich an der Lehne seines Rollstuhles festzuhalten, damit ich ihn endlich direkt anschauen könnte. Und wie mein Herz dabei raste, als würde ich nicht wissen, dass er es wollen würde. Diesen Kuss, den ich ihn vielleicht aufdrücken wollte, mich aber nicht traute.

Ich beobachtete meine Hand, wie sie sich ihm immer weiter näherte. Seinen Blick, der mir unsicher entgegensah. Doch dann zog ich sie zurück und die Melodie des Karussells drang in meinen Kopf ein. Ich erblickte plötzlich den Schmetterling, der durch meine Bewegung wegflog. Er flatterte den Himmel entgegen und ließ mich zurück.

Was war das eben gewesen? Ein Tagtraum, eine Eingebung oder die Zukunft? Nein – Letzteres hätte noch nicht einmal Sinn, denn es müsste viel passieren, dass Levi und ich einander vergessen würden. Viel zu viel.

Mein Blick sprang zu ihm, als ich an ihn vorbeifuhr. Er stand noch immer mit verschränkten Armen da und machte nicht den Anschein, als hätte er irgendetwas ungewöhnliches wahrgenommen.

Wie von selbst, glitt meine Hand vorsichtig über Kuchels Kopf, die nun kurz aufsah, als wollte sie mich fragen, was los sei. Ich lächelte gezwungen.
„Mama dreht wohl ein wenig durch..." ,flüsterte ich eher zu mir selbst und sah dabei zum Himmel hinauf. Wo auch immer dieser Moment, den ich gesehen hatte, herkam, ich würde ihn niemals erleben. So viel stand fest. Denn ich würde niemals zulassen, dass Levi so sehr verletzt werden würde. Ich umklammerte die Stange unseres Stahlpferdes bis meine Hand zu schmerzen begann, während das Karussell langsam abbremste.
„Niemals..." ,zischte ich, um es mir selbst zu versprechen. 

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt