52. Sog in die Dunkelheit

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Es war so dunkel, so kalt und feucht. Ich konnte kaum etwas sehen und stapfte durch einen Tunnel, in welchem eine riesige Pfütze zu sein schien. Sie stand mir bis zu den Knöcheln und wärme meine Füße. Meine Schritte führten mich immer weiter Richtung Licht. Es war der einzige Weg, den ich nehmen konnte. Ich stöhnte angestrengt. Wo war ich? Warum war ich hier? Was war das für ein Ort? Auf keine dieser Fragen wusste ich eine Antwort, doch das Licht - es führte mich zu sich, bis ich es förmlich berühren konnte. Meine Augen kniffen sich zusammen. Die Helligkeit, die mir nun am Ausgang des Tunnels entgegegenkam, brannte sich in ihnen ein. Doch dann kamen langsam die Farben in meine Welt zurück und ich starrte geschockt auf den See, in dem ich stand. Er bestand aus Blut. Überall schwamen Leichen. Sie trieben in alle Richtungen vor sich hin, als würde eine Strömung sie vorantreiben. All diese Leute trugen die Uniform des Aufklärungstrupps, doch ich konnte keinen von ihnen erkennen. Sie waren verunstaltet - teilweise kopflos. Es war furchtbar.
"Da bist du ja...." sprach Levi plötzlich zu mir. Ich hob meinen Blick an und entdeckte ihn inmitten des Sees. Auch er trug die Hose und das Hemd unserer Uniform, doch alles an ihm war blutverschmiert.
"Was ist hier los?" fragte ich und sah mich aufgeregt um. Energisch ging ich auf ihn zu, bis er seine Hand ausstreckte, um mich zu bremsen.
"Vorsicht!" Er sah zum Boden und ich folgte seinem Blick: Dort unten im Blut stand ganz allein eine Blume. Es war ein Gänseblümchen. Seine weißen Blüten leuchteten uns entgegen. Wie nur hatte ich es übersehen können? Ich schluckte schwerfällig. Was hatte das alles zu bedeuten? Levi ging in die Hocke. Er berührte die Blume behutsam mit der Hand - erst die Blühten, dann den Stengel. Mit einem leichten Ruck pflückte er sie und stellte sich wieder vor mir. Sein Blick wanderte von ihr zu mir. Dann hob er sie sanft hoch, bis er sie über sich hielt.
"Levi, was machst du da?" Ich starrte ihn an. Er antwortete nicht sondern lag seinen Kopf leicht in den Nacken und öffnete seinen Mund, zu dem er die Blume langsam führte. Seine Wangen röteten sich und auch ich spührte die Hitze, die in meinem Gesicht aufstieg. Was er da tat, bereitete mir Herzklopfen. Ich biss mir unsicher auf meine Unterlippe. Levi streckte der Blume die Zunge entgegen und lag sie mit seinen zwei Fingern darauf. Er schob sie tief in seinen Rachen, bis ich nur noch das Weiß ihrer Blüten erahnen konnte. Dann schloss er seinen Mund und sah mich immer noch eindringlich an. "Was...?" Er sprang mir entgegen und packte mein Gesicht und meine Hüfte. Ich erschrack als er seine Lippen gegen meine presste und drückte ängstlich meinen Mund zu. In meinem Kopf schrie ich seinen Namen, doch er hielt mich stumm. Immer mehr drückte er sich gegen mich, bis wir das Gleichgewicht verloren. Meine Augen weiteten sich. Wir tauchten hinein in das Blut unserer Kameraden, so als sei der Boden plötzlich verschwunden gewesen. Es war so unglaublich warm darin. Immer tiefer versanken wir Arm in Arm. Ich sah nur noch das Rot um uns herum und sein Augen. Sie blickten noch immer zu mir. Doch sein Blick veränderte sich. Er war plötzlich so traurig. Bat er mich darum, meinen Mund zu öffnen? Warum? Ein Schauer überkam mich. Ängstlich kniff ich meine Augen zu und schluckte kräftig. Dann tat ich es. Seine Zunge drang in mich hinein und mit ihr kam die Bitterkeit. Es war das Gänseblümchen, welches er tief in meinen Rachen schob. Ich öffnete meine Augen. Sah seinen Blick, der konzentriert in mich hineinstarrte. Es blieb mir nichts anderes übrig: Ich schluckte die Blume. Die Flüssigkeit um uns herum verlor ihre Farbe. Das Rot verschwand und ich erkannte die Sonne, die auf die Wasseroberfläche zu scheinen schien. Ein Glanz breitete sich um uns herum aus. Levi löste seine Lippen von meinen. Er strich mir über meine Wangen.
"Wir müssen das schaffen...." sagte er zu mir. Sein Haar tanzte im Wasser, als würde es im Wind wehen. Es begann im Sonnenlicht zu schimmern. Vertrauensvoll starrte er dem Licht entgegen. Seine Gesichtszüge waren entspannt, beinah schläfrig und auch in mir breitete sich die Müdigkeit aus. Doch plötzlich begann ich eine Schwere zu empfinden. Sie zog mich herunter in die Tiefe.
"Was? Warum?" rief ich. Doch Levi entfernte sich immer mehr von mir. Eine schwarze Flüssigkeit strömte aus ihm heraus. Sie bahnte sich ihren vorhergesehenen Weg und umhüllte das Licht, als würde sie es verschlucken. Das Wasser kühlte sich immer mehr ab. Panisch versuchte ich hinaufzuschwimmen, doch sank ich stattdessen mehr und mehr zum Grund des Sees hinab. Die Dunkelheit zog mich in sich hinein. Die Kälte umwarb mich. Ich verlor Levi aus den Augen. Er war fort.

"Mir ist kalt...." flüsterte ich, als ich aufwachte. Ich sah zum Fenster. Die Morgensonne schien beinah zurückhaltend herein und offenbarte mir die Beschlagenheit des Glases. Mein Kopf, den ich mit meiner Hand zaghaft hielt, schmerzte. "Was war das für ein komischer Traum?" fragte ich mich. Unsicher fasste ich an meine Lippen. Die Bitterkeit schien immer noch an ihnen wie Honig zu kleben. Ich hauchte in die Kälte hinein. Es war ernüchternd. Schwerfällig stand ich auf. Mein Körper rief nach dem Schutz meiner Decke, doch ich zog mir meine Uniform an und richtete mein Haar. Ich strich über die Verletzung an meinem Bauch. Der Verband war nun schon einige Wochen angebracht. Die Wunde müsste geschlossen sein. Mit einem Ruck befreite ich mich von dem Stoff und sah mir die zurückbleibende Narbe an. Sie war weniger offensichtlich, als ich befürchtet hatte. Doch trotzdem würde sie mich immer wieder an mein Fehlverhalten erinnern - meinen Sprung in die Gefahr. Ich dachte an Levi - wie er meine Wunde zugedrückt und wie er mich dabei angesehen hatte. Dieser Moment hatte ihm so viel gekostet, doch am Ende hatte er uns näher aneinander geführt. Ich seufzte. Mir war immer noch kalt.

Unruhig betrat ich den Speisesaal. Wie immer war ich einer der Letzten, die aufgestanden war. Mein Trupp begrüßte mich. Ich wank den SoldatInnen zu und setzte mich zu Jens und Bastian.
"Guten Morgen, -dN-" rief Jens aus, während Bastian freundlich nickte.
"Guten Morgen." sagte ich und ergriff hungrig ein Brötchen aus dem Korb, der auf dem Tisch stand. Es war noch warm, sodass mir das Wasser im Mund zusammenlief. 
"Wie ist der heutige Plan?" fragte Jens und beobachtete mich. Ich kaute energisch, um mich von dem Teig des Brötchens zu befreien und antwortete dann:
"Ich will den gleichen Ablauf wie gestern umgesetzt sehen. Wir müssen sichergehen, niemanden vergessen zu haben. Ich selbst werde noch kurz etwas in Stohess erledigen und heute dich, Jens, oben unterstützen."
"Jawohl" bestätigten Jens und Bastian im Einklang. Ich lächelte. Diese Mission tat anscheint allen gut. Sie zeigte diesen Frauen und Männern, dass sie etwas Gutes tun konnten und nicht nur das Töten von Monstern zu ihren Aufgaben gehörten. Seit gestern waren sie zumindest für die Kinder, die sie zu den Gehöfen der Königin brachten, Helden. Sie wurden bestaunt und verehrt. Für viele dieser Leute war es das erste Mal, das sie solch eine Anerkennung erhielten.
"Auruo, solange ich weg bin, möchte ich, dass du die Leitung des Trupps übernimmst. Ihr beginnt die Aufgabe genauso wie gestern und führt die Suche fort!" befahl ich ihm, nachdem ich zu seinem Tisch gegangen war.
"Verstanden."
"Gut, ich werde in einer Stunde zu euch stoßen." kündigte ich an und verließ die Herberge.


Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt