Samu:
Die Zeit verrast und ich kann sie nicht aufhalten. Alles könnte wie immer sein, jeden Tag mit den Schülern verbringen, Arbeiten vorbereiten, Gespräche führen. Doch es ist nicht wie immer. Manchmal sehe ich Evelyn, doch ihre Gedanken sind nicht hier, nicht bei schulischen, normalen Dingen. Vielleicht denkt sie ab und an auch mal an mich. Wer weiß das schon. Keiner von uns beiden traut sich den anderen anzusprechen. Wir sind wie kleine Kinder, keinesfalls Erwachsene. Seit meinem Ausrutscher und der naja zugegeben etwas einfallslosen Entschuldigung haben wir kein Wort miteinander geredet. Selbst geübt haben wir nicht mehr gemeinsam. Und heute ist der Tag, den ich so sehr herbeigewünscht hatte. Jetzt will ich ihn nicht mehr...
Ich hatte nie die Absicht sie zu schlagen. Aber ich war verzweifelt, eifersüchtig und hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich hoffe, heute alles ungeschehen machen zu können, indem ich dass Gespräch mit ihr suche.
Der Vormittagsunterricht fällt aus. Scherzhaft meinte der Direktor: "Damit alle genug Zeit für ihren Schönheitsschlaf haben!" Zeugnisse gab es bereits gestern, sodass man sich darum keine Sorgen mehr machen musste. Nur eine einzige Aufgabe wurde erteilt: Sich ordentlich auf dem Schulfest zu zeigen, sprich Abendkleidung erwünscht! Ich bin ja so gar kein Anzug -Typ, aber heute muss es dann wohl ausnahmsweise einmal sein. Seufzend schwinge ich mich aus dem Bett, mache mir ein Frühstück und springe unter die Dusche, während ich leise unseren Text vor mich hin singe. Also ich bin vorbereitet! So ganz mulmig ist mir trotzdem nicht. Was wenn ich den Text vergesse.. Ach, wird schon!
Ich betrachte mich im Spiegel und stelle fest, dass unsere Trennung auch bei mir Spuren hinterlassen hat. Ich esse wenig, fühle mich oft antriebslos und verspüre vor allem ein Gefühl: Sehnsucht. Sie bei mir zu spüren. Neben mir. Vielleicht kann ich heute etwas ändern. Nochmal vermasseln werde ich es nicht.
Evelyn:
"Hey Süße, aufstehn! Heute ist DEIN großer Tag! Es gibt noch sooo viel zu erledigen!"
Verärgert sehe ich meine Mutter an und gähne herzhaft. "Bist du verrückt? Lass mich schlafen.."
"Nix da, in einer Stunde geht es zum Friseur!"
Bevor ich mich noch wehren kann, reißt sie schwungvoll meine Bettdecke zur Seite und öffnet das Fenster. Die Sonne scheint. Es verspricht ein schöner Tag zu werden. Hoffentlich.. Noch benommen vom Schlaf tapse ich in die Küche wo meine Mum schon mit einem reichlich großzügig gedeckten Tisch auf mich wartet. Verlegen bleibe ich stehen.
"Mum, dass ist ja lieb gemeint, aber du weißt doch.. Ich bin kein großer Esser."
Für einen Moment sehe ich einen enttäuschten Ausdruck auf ihrem Gesicht, doch der verfliegt schnell wieder als auch mein Vater das Zimmer betritt und mich umarmt. "Ich freue mich schon sehr auf später", raunt er an mein Ohr.
"Ich mich auch." Lügen ist wirklich nicht meine Stärke, doch sie scheinen es auch dieses Mal zu glauben. Warum sollte ich mich auch nicht freuen? Das war schließlich, dass was ich immer wollte. Im Mittelpunkt stehen. Leute die mir zujubeln. Doch in meinem derzeitigen Zustand der mich mehr und mehr verwirrt kann ich nicht genau sagen ob ich eher lachen oder weinen sollte.. In meine eigenen Gedanken versunken lausche ich der gedämpften Musik aus dem Radio und knabbere nebenbei an einem trockenen Brötchen herum. Schon jetzt spüre ich meine innere Unruhe. Nervös knete ich die Tischdecke. Um Punkt 15.00 Uhr wird das Schulfest beginnen. Samu und ich werden es eröffnen. Ich und Samu, Samu und ich. Wie ich die Worte auch drehe, es bleibt immer das gleiche. Wie kann man zusammen singen, wenn man zerstritten auseinander gegangen ist? Ob das funktionieren wird... Nachher werde ich die Antwort darauf erfahren.
Meine Mutter tippt schon wieder unruhig auf ihre Uhr. "Ich will dich ja nicht hetzen, aber wir sollten los. Du möchtest doch schließlich gut aussehen oder?"
Ja klar, will ich das.
Kurze Zeit später sitze ich also wieder beim Friseur. Dort wo ich mich auch von meiner langen Haarpracht getrennt habe.
"Wie geht's dir denn?" Elisa, die mein Make- up macht, sieht mich fragend von der Seite an. "So als Hauptact auf dem Schulfest, dass muss doch mega aufregend sein."
Wortlos hebe ich meinen Arm. Die Hände zittern schon leicht, will nicht wissen wie das nachher sein wird. Hauptsache ich muss mich nicht wieder übergeben..
"Das schaffst du schon." Elisa streicht mir beruhigend über die Schulter. "Hast ja einen starken Mann an deiner Seite." Sie zwinkert mir zu. Beim Gedanken an Samu wird mir schon wieder schlecht. Gleichzeitig sehe ich Elyas, das Chaos was in meinem Herz entstanden ist. Doch letzterer ignoriert mich seit dem komischen Vorfall in der Eisdiele.
Um meine Unsicherheit zu überspielen starte ich eine Gegenfrage:
"Woher kennen sie Samu?" Die Antwort ergibt sich, als ein großer, blonder äußerst attraktiver Mann hinter mich tritt. Ach ja, daher. Mein Herzschlag erhöht sich in Sekundenschnelle. Ich rutsche unruhig hin und her. Seine Haare liegen perfekt, wahrscheinlich hat auch er sich einem Friseur- Besuch unterzogen.
"Was machst du hier?" Meine Stimme trifft nicht die gewünschte Tonart, ich wollte wütend klingen, sauer. Allerdings höre ich mich eher an wie eine verängstigte Maus.
"Ich.." Samu malt imaginäre Kreise auf den Boden und schaut auf seine Schuhe als gäbe es dort etwas spannendes zu sehen. Wenn ich eins hasse, dann sind es Leute die einem beim Sprechen nicht ansehen.
"WAS?" Ok, so sollte meine Stimme klingen. Scharf.
"Ich wollte mich entschuldigen.. Und zwar persönlich."
"Fällt dir ja früh ein." Arrogant blicke ich an ihm vorbei. Elisa werkelt weiter konzentriert an mir herum ohne unserm Gespräch zu folgen. Gut so.
"Kann ich dir.. das vielleicht in Ruhe erklären?"
"Ich bin mir noch nicht sicher ob ich das möchte."
"OK." Samu's Blick bleibt unbeweglich. Er fixiert meine Augen. So schnell kriegst du mich nicht rum! "Dann bleibe ich so lange bis du dich entschieden hast."
Ich zucke mit den Schultern. "Tu dir keinen Zwang an."
Samu holt sich einen weiteren Stuhl und setzt sich ungefragt neben mich.
Nach einiger Zeit bin ich fertig und betrachte das Werk im Spiegel. Meine Haare fallen wie gewöhnlich lockig, haben aber einen neuen Schnitt, der mir sehr gut gefällt. "Das Make-up ist der Hammer", lobe ich Elisa, die mein Kompliment dankend entgegen nimmt.
Nachdem meine Mutter von ihrer Shoppingtour zurückgekehrt und alles bezahlt hat, wendet sie sich an Samu der immer noch wie ein Schatten hinter mir steht und sich nicht rührt.
"Sollen wir sie mitnehmen Herr Haber?"
Er winkt dankend ab. "Nein ich bin mit dem Auto hier."
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und frage mich was das wieder soll. Samu gibt mir zu verstehen, dass nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ein raunendes "Wir sehen uns nachher", dass bei mir schon wieder eine Gänsehaut verursacht, ist das letzte was ich von ihm höre. Help!
Auf dem Schulfest:
Jetzt stehe ich hier. Cocktail in der Hand (natürlich ohne Alkohol) und höre mir Olivias Gequatsche an. Samu habe ich noch nicht gesehen, ist vielleicht aber auch besser so.
"Elyas.. er ist soo ein Süßer, das glaubst du gar nicht! Er legt mir die Welt zu Füßen.."
"Äh Moment mal! Du bist mit Elyas zusammen?" Meine Augen weiten sich vor Überraschung.
"Ja. Seit letzter Woche. Sei bitte nicht böse, dass ich dir nicht's erzählt habe, aber die Sache mit dem Haber hast du schließlich auch komplett verschwiegen."
"PSST!" Fehlt grad noch, dass irgendwer etwas mitkriegt.
Ich betrachte Olivia. In ihrem lilafarbenen Kleid sieht sie einfach toll aus, die leicht geröteten Wangen lassen sie süß wirken und ja.. Könnte ich sie mit einem Wort beschreiben würde ich sagen: Glücklich.
Da kann man einfach nicht anders als ihr dieses Glück auch zu gönnen. Ich bin sogar etwas erleichtert, Elyas ist ab jetzt sowieso tabu für mich. Eine Sorge weniger. "Ich freu mich für dich. Wirklich. Ihr seid ein hübsches Paar." Olivia drückt mich dankbar und geht anschließend ihren Liebsten suchen, doch nicht ohne mir vorher noch ganz feste die Daumen zu drücken.
Nun stehe ich alleine hier. Ich sehe dabei zu wie der Schulhof sich füllt. Langsam packt mich die Angst.
Samu:
Ich sehe sie. Evelyn ist wunderschön, ihr Kleid sitzt genauso perfekt wie vor einem Monat. Gleich werden wir singen. Es ist das erste Mal, dass selbst ich eine leichte Unruhe und Nervosität empfinde. "Hey." Ich komme neben ihr zum stehen.
"Tach." Immer noch eingeschnappt. Ich seufze, auch weil ich ihr Verhalten verstehe.
"Ich kann nur immer wieder sagen, dass es mir fürchterlich leid tut, ok?"
Keine Reaktion. Dann kann ich genauso gut gegen ne' Wand reden.
"Ich werde dir nicht mehr wehtun.. Bitte."
Evelyn:
Da steht dieser riesige Mann neben mir und bittet um Verzeihung. Es könnte fast zum Lachen sein. Doch Samu's Anblick flasht mich schon wieder total. Sein Anzug. Perfekt. Sein Auftreten. Atemberaubend. Seine Augen. Blau, blau, blau.
Gerade will ich zum reden ansetzen, doch schon werden wir unterbrochen.
Der Direktor betritt die Open Air Bühne und hält eine kleine Rede. Ich spüre, wie ich wieder anfange zu zittern. "Hey." Samu scheint es zu merken, denn er tastet vorsichtig nach meiner Hand. Ich weiß, dass wir das nun ja.. eher nicht machen sollten. Aber momentan ist es mir auch egal. "Lass mich nie mehr los." Samu lächelt. Ich wusste, dass ich ihm nicht wiederstehen kann. Genau das, ist dass schlimme.
"Und nun begrüßen wir Evelyn Engel, eine äußerst talentierte Sängerin die erst vor kurzem von Deutschland nach Finnland gezogen ist.. Zusammen mit ihrem Musiklehrer Samu Haber! Wir wünschen ihnen viel Spaß mit dem selbstgeschriebenen Song:
Angels on a rampage!
Wir bahnen uns den Weg zur Bühne. Applaus brandet auf, ich höre begeisterte Pfiffe. Als ich vor dem Mikro stehe sehe ich sogar Ella, Emma und Sofia die begeistert klatschen. Scheint als hätten sie ihre bösen Absichten vergessen. Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Sehe meine Eltern.. und.. wer steht denn da neben ihnen?! Das ist Lea die mich da breitgrinsend ansieht! Ich hätte mit allem gerechnet: Aber nicht mit ihr! Auf einmal fällt die ganze Anspannung von mir ab. Ich verlasse mich auf mein Gefühl. Als die ersten Takte erklingen sehe ich in Samu's Augen und singe. Für ihn. Für meine Familie. Für Lea. Für Olivia. Für Herr Ramajaa. Vielleicht auch für Elyas. Aber auch nur vielleicht.
Während des Songs nimmt Samu meine Hand und ich halte sie fest.
Angels on a rampage.
Als der letzte Ton leise verklingt sehe ich in die Menge. Meine Sorgen waren unbegründet und zwar völlig! Es wird gejubelt und geklatscht wie verrückt. Von allen Ecken höre ich das Wort 'Zugabe '. Samu nickt mir zu, ich nehme meine Gitarre und spiele die ersten Klänge von Forever yours.
Es ist totenstill. Samu sieht mir immer wieder tief in die Augen, ich versuche mich nicht ablenken zu lassen.
Das ist definitiv der schönste Moment in meinem bisherigen Leben.