Der gesamte unterirdische Teil von Admiral Greys vierstöckigen Militärkomplex, war umgeben von einer magieabweisenden Barriere, die durch Schutzzauber in den untersten Stockwerken gespeist wurde. Harry hatte zwei mühevolle Monate damit verbracht, den Kontakt mit den Zivilisten, die dort arbeiteten, zu intensivieren, bis er ihnen irgendwann etwas zum Tausch für diese Information anbieten konnte.
Diese unbezahlbaren Insider-Informationen hatten der Flotte eine enorme Menge an Treibstoff und Essen gekostet, sowie das Versprechen eines Zufluchtsorts. Harry wäre bereit gewesen, noch viel mehr in den Handel mit einfließen zu lassen, nur um Hermiones Sicherheit zu garantieren.
Die Schutzzauber waren so beschaffen, dass sie sich zwar über den gesamten Komplex ausbreiteten, aber die originäre Zauberzone war gerade einmal einen Quadratmeter groß. Es stellte sich heraus, dass es ziemlich schwer war, die Schutzzauber aufzulösen, ohne dabei eine ganze Reihe an Alarmen auszulösen. Aber was war Harry, wenn nicht einfallsreich - unabhängig davon, wie verzwickt eine Situation auch war - und mit der Hilfe des Cowboys und der Erfahrung Scrimgeours, Betreff solcher Sicherheitsmaßnahmen, schaffte er es, dieses Problem zu umgehen.
„Also haben wir alles, das wir nicht haben entzaubern können, einfach verschoben", erklärte er Hermione.
„Was meinst du mit 'verschoben'?"
„Ich meine, den Quadratmeter auf dem der originäre Ersteller dieser Schutzzauber gestanden hat, als er sie errichtete. Wie sich herausstellte, war der Zauber genau dort fixiert - aber die Position des Ortes war variabel. Es ist die einzige Schwäche in einem sonst sehr ausgeklügelten System. Also haben wir den Bereich entwurzelt und ihn versetzt. Er ist aktuell so nah an den tatsächlichen Toren, wie möglich, ohne dass wir dabei die Grenzen des Schutzzaubers verändert hätten. Es ist weit genug, aber noch innerhalb der Beschränkungen in denen der Schutzzauber wirkt, so dass er keine Alarme auslöst, aber weit genug, dass ein normaler Mensch es außerhalb der Anti-Apparationsbeschränkungen schaffen kann und so seinen Arsch in Sicherheit bringen kann, wenn er es muss."
Hermione war beeindruckt, während sie diese neuen Informationen verarbeitete. Und das sagte sie Harry auch.
„Danke", meinte er, „aber wenn ich ehrlich bin, wäre es mit deiner Hilfe viel schneller gegangen." Nun, erklärte er, war alles, was sie tun mussten, an drei bis vier Wachen vorbeizuschleichen, die auf ihren Posten entlang der drei unterirdischen Stockwerke Wache hielten, bevor sie im Erdgeschoss ankamen.
Sie schluckte hörbar. „Ist das alles?"
„Du schaffst das."
Hermione war da weniger sicher. Sie fühlte sich langsam und schwerfällig; ihr Verstand wurde von dunklen Erinnerungen heimgesucht, die sich wie ein ungreifbarer Schleier über alles zu legen schienen. Und dann waren da noch ihre Gefühle. Unter dem wenigen Adrenalin, dass nun durch ihren Körper rauschte, stieg der Wunsch in ihr auf, schreiend herumrennen zu wollen, Dinge zu zerschlagen und Menschen zu verletzen, die es einfach verdient hatten. Aber sie hatte keine Zeit, sich einem solchem Treiben hinzugeben. Ihr Magen drehte sich, aus Angst um Dracos Sicherheit, um, was dazu führte, dass das bisschen Tapferkeit, dass ihr noch blieb, in Gefahr lief, im Nichts zu verpuffen.
„Wie viel Uhr ist es?", fragte sie. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Das Licht war rein fluoreszierend und Fenster existierten schlichtweg nicht in den tieferen Ebenen. Irgendwie dachte sie, dass es nicht von Bedeutung wäre, dies zu wissen. Aber irgendwie fühlte es sich trotzdem wichtig an. Es war wichtig, wieder etwas Kontrolle zu erlangen, und dafür musste sie ihre Umgebung verstehen.
„Es ist kurz vor Sonnenaufgang", antwortete Harry und hielt die Tür für sie auf.
Wie passend, dachte Hermione und trat hindurch.
***
Die drei oder vier Wächter, von denen Harry gesprochen hatte, schienen eher sechs zu sein und es war verstörend festzustellen, dass sie kaum aus dem Teenageralter heraus waren. Schlaksige Gliedmaßen und unsichere Bewegungen, gekleidet in viel zu große Uniformen. Harry, der die Patrouillen für eine solch lange Zeit beobachtet hatte, kannte sie alle mit Namen oder Rufnamen. Das hieß aber nicht, dass er irgendwelches Mitgefühl für sie kannte. Er schob Hermione in einen Besenschrank, der voller Toilettenpapier war und machte sich mit einem Taser enthusiastisch an die Arbeit.
„Wo zur Hölle hast du den her?", fragte Hermione, als er sie endlich wieder aus der Kaskade von herunterfallendem Toilettenpapier abholte.
„Anatoli. Ohne Magie wären Schusswaffen zu laut."
„Und tödlich", fügte sie hinzu. Es gab keine Anzeichen von gefallenen Soldaten. Harry hatte die bewusstlosen Körper bereits in einen leeren Raum gebracht. „Was für eine Art von Einrichtung führt Grey eigentlich hier?" Die Frage hatte darum gebettelt, gestellt zu werden. Der Mann hatte sie gegen ihren Willen festgehalten und benutzte mehr oder minder Kinder, um diese Basis zu bewachen.
Sie mieden die Aufzüge und nahmen stattdessen die Treppen. Hermione erwartete jederzeit dass irgendein Soldat zufällig um eine der Ecken bog und über sie stolperte. Aber Harry versicherte, dass die zweiwöchige Überwachung ihn dazu befähigte, die Dienstpläne mehr oder weniger auswendig zu lernen. Auch schienen bemerkenswert weniger Wächter auf Patrouille zu sein, als sie erwartet hatte.
„Admiral Grey ist kein Amarov, wenn es das ist, woran du dich orientierst."
Hermione stieß Atem aus, von dem sie nicht bemerkt hatte, dass sie ihn angehalten hatte. „Das erklärt, warum sie mich noch nicht aufgeschnitten haben. Geht es Draco gut?"
Harry warf ihr einen ernsten Blick zu. „Ja, wäre es anders, hätte ich es dir bereits gesagt. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er in einer der Zellen im zweiten Untergeschoss festgehalten wird. Sie haben sich darüber unterhalten, dass er irgendeinem Tribunal oder so überantwortet werden soll."
„Was für eine Art Tribunal."
„Strafverfahren."
Hermione war entsetzt. „Wenn jemand ein Verfahren bekommen sollte, hätte ich gedacht, dass es Amarov sein würde."
„Mach dir keine Sorgen, der hat tatsächlich seine Gerichtsverhandlung schon gehabt."
Das kam unerwartet. „Was? Mit Rechtsbeistand und allem drum und dran?"
Harry zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht und kümmert mich auch nicht. Wenn es nach mir ginge, könnten sie ihn für den Rest seines beschissenen Lebens in eine Zelle werfen, bis er verrottet."
„Wie werden wir Draco befreien?"
Harry nahm ihre Hand und zog sie zu den Treppen. „Du wirst ihn nicht befreien, das mache ich. Du wirst jetzt, wie verabredet, zum sicheren Ort gehen. Ein Zauberstab wartet dort auf dich, mit dem du apparieren kannst. Ginny wartet direkt hinter dem Grenzzaun auf dich. Such sie. Versuch keine Langstreckenapparation - nicht in dem Zustand, in dem du dich gerade befindest, verstanden? Geh zu Ginny. Sie wird in Sichtweite auf dich warten. Neville ist auch dort, nur für den Fall, dass etwas schiefgeht."
Sie hielt plötzlich inne. „Und was ist mit dir und Draco?"
„Ginny wird uns abholen, sobald du in Sicherheit bist. Es kann immer nur eine Person raus, zwei würden sie entdecken. Wahrscheinlich werden die Alarme losgehen, sobald Malfoy und ich zusammen diese Zone betreten, aber es ist nur eine kurze Strecke, bis wir ihre Sicherheitsgrenze überschreiten. Wir können ohne Probleme zu Ginny sprinten und sie nimmt uns dann mit." Er starrte nachdrücklich auf ihren Bauch. „Und in diesem Zustand wirst du nirgendwo hinrennen. Ergo, du gehst als erstes."
Sie wusste, dass sie nachts nicht wirklich fliegen konnte; aber es war gut durchdacht und jeder hatte seinen Teil zu spielen, nicht nur Harry. Aber das bedeutete nicht, dass sie es mögen musste.
„Verdammt", brachte sie keuchend heraus.
„Hermione. Ich werde ihn finden, mach dir keine Gedanken!"
Ungläubig warf sie ihm einen Blick zu. „Wie kann ich mir keine Gedanken um euch zwei machen? Sie werden auf euch schießen, wenn sie euch sehen! Und ich habe keine Ahnung, zu was diese Leute fähig sind." Ihre Stimme brach.
Harry warf ihr einen herzzerbrechenden Blick zu. Er hob eine Hand, um eine Träne von ihrer Wange zu wischen. „Traurigerweise bist normalerweise du diejenige mit den besten Ideen. Aber du kannst dich nicht an sie erinnern."
Inzwischen waren sie auf der obersten Etage angelangt und dabei den dunklen Treppengang zu verlassen. „Wenn du mir damit sagen willst, dass mein Gedächtnisverlust zum Wohle aller wäre, dann schwöre ich dir, dass ich dich schlagen werde!"
Er seufzte. „Ziemlich genau das Gegenteil. Für mich war Obliviate irgendwie schon immer der vierte Unverzeihliche."
Mit beinahe mürrischem Schweigen beobachtete Hermione, wie Harry die Tür zur Treppe öffnete und bei dem Quietschen leicht zusammenzuckte. Sie musste so dringend ein Badezimmer besuchen, dass sie Angst hatte, ihre Hosen einzunässen.
„Ist es draußen sauber?", flüsterte sie.
„Ja", kam es zurück. „Der Ausgang zum Hintergarten ist die vierte Tür links. Geh durch und wage es nicht innezuhalten, bevor du am Fuße des alten Wachturms angekommen bist. Die sichere Zone ist durch rotes Graffitti markiert. Der Zauberstab ist im Schlamm vergraben. Von dort aus kannst du zaubern."
„Harry..."
„Hermione. Um Merlins Willen, geh endlich!"
Und sie ging.
***
Hermione ging, nein... sie stolperte umher, als wäre sie in dem Körper von jemand anderem gefangen. Das dissoziative Gefühl, dass sie verspürte, war einfach nur schrecklich. Ihre Füße fühlten sich zur gleichen Zeit weich und angespannt an. Schuld daran waren die Ödeme, die sie wahrscheinlich von den vielen Tagen im Bett bekommen hatte. Die Haut um ihre Hände und Handgelenke war papierhaft, trocken und blass. Sie war nun schon eine ganze Weile nicht mehr rausgekommen und wenn man sie nicht mit intravenösen Nährstoffen versorgt hatte, hätte sie wahrscheinlich einen ernsthaften Vitamin D Mangel. Dies war alles andere als ideal für eine werdende Mutter.
Das Baby schien sehr tief zu sitzen, aber nichtsdestotrotz schien es keinen Platz mehr für ihre Rippen zu lassen. Hermione musste sich wundern, wie da noch genug Platz für ihre Lungen sein konnte. Der kurze Ausflug aus ihrem Krankenzimmer bis zum obersten Stockwerk hatte sie zum Keuchen gebracht; ihr Körper war nicht an solche unerwarteten physischen Anstrengungen gewöhnt. Währenddessen schien ihre volle Blase das nächste Desaster vorzuprogrammieren.
So hatte sie diese Schwangerschaft wirklich nicht erleben wollen.
Tatsächlich war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine Schwangerschaft erleben wollte, aber entschied sich, dass diese Gedanken möglicherweise das Resultat ihrer derzeitigen Umstände waren. Es war schwer, eine Verbindung zu dem Kind aufzubauen, dass gerade in ihr heranwuchs, wenn sich das alles... nun ja, so neu anfühlte. Ohne Zweifel würde sich das ändern, sobald sie, Harry und Draco erst einmal in Sicherheit und wieder mit Henry vereint wären. Sie würde alles tun, was sie gerade im Moment tun konnte - also griff sie tief in ihre Reserven, um die Kraft aufzubringen, den nächsten nötigen Schritt zu tun. Einen nach dem anderen. Sie konnte es schaffen. Es war immerhin ein bitterverdienter Präzedenzfall.
Sie ging an der dritten Tür vorbei - nur noch eine Tür weiter von der ersehnten Freiheit, die Harry ihr versprochen hatte - und hielt inne.
Die dritte Tür war eine Damentoilette.
Ein hysterischer Drang zu Lachen stieg in ihrer Kehle hoch. Wie lächerlich, dass so ein Ort überhaupt existierte. Wen kümmerten schon solch zivilisierte Einrichtungen in Zeiten wie diesen?
Sie. Verdammt nochmal!
Der Korridor war komplett leer. Harry hatte ihr das versichert. Es gab niemanden der sie entdecken würde und sie würde verdammt sein, wenn sie sich in die Hosen machen würde - und das gerade jetzt, wo sie bereits so viele Demütigungen hatte schlucken müssen. So schnell sie konnte, duckte Hermione sich in die Toiletten und nahm die Kabine, die am weitesten von der Tür entfernt war. Nur für den Fall, dass doch jemand hereinkäme. Sie ließ die Kabinentür unauffällig geöffnet, warf ein Bündel Toilettenpapier in die Kloschüssel, um die Geräusche zu verbergen, die wohl gleich von einem epischen Strom erzeugt werden würden. Sie hätte beinahe vor Erleichterung geheult, als sie sich erleichterte. Als sie fertig war, fühlte sie sich wieder halbwegs menschlich.
Mit erneuertem Selbstbewusstsein und unübersehbaren, munteren Schrittes, verließ Hermione die Kabine. Es war der Moment, als sie die vergitterten Fenster wahrnahm. Die Verlockung des Sonnenlichts war groß, nachdem sie so viel Zeit in künstlichem, allgegenwärtigen Licht verbracht hatte. Sie hielt einen Moment inne, um hinaus zu spähen. Erst glaubte sie, dass es ein leerer Innenhof wäre.
Nur, dass er nicht leer war.
Guter Gott! Hermione packte die Gitterstäbe an dem Fenster so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, bevor ihre Beine nachgaben.
Sie würde seinen vertrauten Gang überall erkennen. Kein Wunder, dass die ganze Basis praktisch verlassen war. Hier passierte gerade mehr als nur Glück und Harrys Plan. Jeder war in den Hof gekommen, um mitzuerleben, was wohl in einer Hinrichtung enden würde.
Amarov und Malfoy waren in identischen schwarzen Jogginganzügen gekleidet. Beide waren an ihren Handgelenken mit Kabelbindern gefesselt und ihre Augen waren verbunden. Amarov war an einen Holzpfosten gebunden und stand einer Reihe bewaffneter Soldaten gegenüber, die alle unbehaglich aussahen. Das konnte Hermione sogar aus dieser Entfernung ausmachen. Der Schock zusehen zu müssen, wie zwei der Soldaten Draco zu dem zweiten Holzpfosten eskortieren, der direkt neben Amarov stand, ließ Hermione in die Knie gehen.
Da war kein Schlürfen oder Stolpern in seainem Gang. Er stolzierte geradezu dort raus und Hermione hätte heulen können, so malfoyisch mutete ihr das Ganze an. Die Soldaten begannen damit, ihn an dem Pfosten festzubinden, direkt gegenüber denjenigen, die sein Erschießungskommando sein würden.
Nicht dass Hermione geblieben wäre, um das noch mitzuerleben. Sie war bereits aus der Toilette hinaus und den Korridor hinab gestürmt. Die Türen zum Innenhof wirbelten auf. Harry hatte falschgelegen damit, dass sie nicht mehr hätte rennen können.
Sie rannte wie der Wind.