Evelyn:
Raum und Zeit scheinen mir verloren gegangen zu sein. Da war ich einst noch total sauer auf Samu, und nun liege ich wieder einmal neben ihm und betrachte sein friedliches Gesicht. Er wirkt verletzlich und doch gleichzeitig so reif und erwachsen. Samu scheint zu bemerken, dass ich ihn beobachte, denn er schlägt müde ein Auge auf und schließt es sogleich wieder. "Samu", raune ich an sein Ohr. "Wie wär's denn mal mit aufstehen..?" "Grr." Er hat nur ein leises grummeln für meinen Vorschlag übrig. Trotzdem schlingt er seine Arme um meine Taille, sodass ich kaum Luft kriege. "Du bist noch da."
"Na ja, wo sollte ich auch sonst sein?" In meiner Stimme liegt ein kleiner Hauch von Verwirrung.. "Du hättest allen Grund zu gehen." Er mustert mich prüfend. "Ich weiß." Und trotzdem kann man ihm nicht lange böse sein.. Wir kennen uns knapp ein halbes Jahr und haben mehr durchgestanden als manch ein anderer in seiner Beziehung.. "Ich..." Samu schüttelt den Kopf und runzelt verärgert die Stirn. Er setzt erneut an. Ohne Erfolg. "Ich möchte es einfach nicht sagen. Aber es muss sein: Ich werde nach Tampere ziehen." Ich atme langsam aus und streiche mir die Haare aus dem Gesicht. "Warum?" Dieses warum bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass Samu vorhat in eine völlig andere Stadt zu ziehen, sondern auch mich zu verlassen, die Schule zu verlassen. "Du willst dich also tatsächlich versetzen lassen." Bis jetzt konnte und wollte ich Olivias Worten einfach keinen Glauben schenken. Und doch wird mir nicht's anderes übrig bleiben. "Du willst alles aufgegeben? Was ist mit Riku..?"
"Was soll Riku tun? Es ist schließlich meine Entscheidung. Er muss es wohl oder übel so hinnehmen." "Was ist mit mir Samu?" Auch wenn ich es versuche zu vermeiden.. Meine Stimme schraubt sich langsam in die Höhe und scheint des kreischens' nahe. "Evelyn, beruhig dich bitte." Er kommt meinem Gesicht ganz nahe und küsst mich vorsichtig. "Diese Entscheidung treffe ich nur, um es für uns erträglicher zu machen. Es hat nichts mit meiner Liebe zu dir zu tun.. Obwohl.. ich tue es ja genau deswegen. Ich kann dich in der Schule einfach nicht mehr als 'normale' Schülerin betrachten. Dafür sind wir zu weit gegangen. Eine unbedachte Berührung und wir sind dran.. Beide. Ich möchte eine räumliche Distanz wahren, sodass ich hier irgendwann vergessen werde."
"Warte mal.. Tampere? Ist das nicht über zwei Stunden von Helsinki entfernt?!"
"Ja, das ist wahrscheinlich auch ganz gut so, die Versuchung ist dann nicht besonders groß, uns gegenseitig ständige Besuche abzustatten. Ich möchte einfach, dass alles etwas zur Ruhe kommt."
"Wie ging das so schnell?" Ich bin auf der Suche nach Antworten. Vielen Antworten..
"Unser Direktor hat bereits einen Ersatz für mich, der die gewünschten Fächer unterricht. Meine Wunschschule in Tampere hat ebenfalls zugestimmt. Normalerweise dauert das natürlich länger, aber es hat sich nun in meinem Fall relativ schnell so ergeben."
"Hmm." Keine Worte für dieses Geständnis. Mir bleibt echt gerade die Luft weg. "Auch wenn ich gerne etwas anderes sagen würde.. doch es ist besser so. Aber wehe, du verknallst dich dort gleich in die nächste Schülerin." Drohend hebe ich den Zeigefinger. "Eben. Wir wissen es beide. Soll das ein Scherz sein..? So ein Fehler wird mir nie wieder passieren. Obwohl du ein verdammt schöner Fehler bist.." Er schwingt seine langen Beine aus dem Bett und reicht mir die Hand. "Kommst du mit frühstücken?" Ich nicke wage und schmiege mich an ihn. Gemeinsam decken wir den Tisch und sitzen kurz darauf bequem nebeneinander und lassen es uns schmecken. Samu hat das Radio angemacht. Finnische Musik berieselt uns. "Wann ist es soweit?" Ich sehe ihn an und merke wie es in seinem Kopf rotiert. Klar, Samu tut mal wieder total cool, doch in seinem inneren bereitet er sich wahrscheinlich jetzt schon seelisch und moralisch auf unsere nächste Trennung vor. "Bald. Nach den Ferien bin ich weg. Bis dahin müssen wir die Zeit noch genießen!" "Das werden wir auch tun!" Samu grinst. "Du warst noch gar nicht mit mir in der Sauna.. Wie konnte ich dir diese Möglichkeit nur vorenthalten.." Mein Gesichtsausdruck spricht wohl Bände, denn Samu lacht erneut und winkt ab. "Natürlich nur wenn es Madame nicht zu heiß ist.." "Ach..!" Nun lache ich auch. "Mit dir ist alles zu heiß.." "Hmm, wir könnten natürlich auch mal wieder einen kleinen Ausflug unternehmen.. Beim See ist deine Hitze sicher ganz schnell wieder verfolgen.." Auf einmal horcht Samu auf und stellt das Radio lauter. Dann beginnt er den Text zu singen. Wie sehr ich seine Stimme vermisst habe! Wie lange wir nicht mehr gemeinsam gesungen haben!
Shut your eyes and think of somewhere
Somewhere cold and caked in snow
By the fire, we break the quiet
Learn to wear each other well..
And when the worrying starts to hurt
And the world feels like graves of dirt
Just close your eyes until
You can imagine this place
You're our secret space at will!
Shut your eyes, I spin the big chair
And you'll feel dizzy, light and free
And falling gently on the cushion
You can come and sing to me!
Er zieht mich zu sich in seine Arme. "Denk einfach an dieses Lied. Denk an dem Songtext. Denk an diesen Ort unserer Vorstellung, an dem wir gemeinsam sind. Vielleicht wirst du dich dann nicht mehr so einsam fühlen.. Und wenn wir uns wiedersehen wird es umso schöner sein." "Ach Samu. Du findest wirklich immer die passenden Worte." Bevor ich erneut in Erwägung ziehe melancholisch zu werden, schlucke ich den Kloß in meinem Hals herunter und schaue unternehmungslustig in seine Richtung.
"Und..? Was machen wir nun?"
"Na ja, ich hätte da so eine Idee.. Heute ist Flohmarkt beim Marktplatz Hietalahdentori. Falls du auf so alten Krempel stehst, könnten wir da mal vorbeischauen.." Mit solchen Dingen bin ich bis jetzt noch nie in Berührung gekommen, meine Eltern waren immer gegen solchen 'Sperrmüll'. Bei ihnen musste alles neu und original verpackt sein, am besten schön teuer, und zum angeben perfekt. Aber warum nicht auch mal etwas neues ausprobieren..? "Ok, ich bin dabei!" Samu lächelt und bringt mich mit einem simplen angedeuteten Kuss auf meinen Hals wieder einmal völlig durcheinander. "Kommst du noch mit duschen?" Was für eine Frage, Natürlich! Nach einigen ausgiebigen unanständigen Dingen, die mir noch im nachhinein ein anzügliches Grinsen auf's Gesicht zaubern, sind wir frisch und bestens gelaunt. Als ich mich bereits auf den Weg zum Auto mache, werde ich von Samu abgepasst. "Nichts da! Das Wetter ist einfach perfekt um eine Runde auf dem Fahrrad zu drehen!" Bevor ich noch etwas erwidern kann, ist er schon wieder weg und kommt kurz darauf mit einem nagelneuen Fahrrad zurück. "Ähm." Ich schaue ihn fragend an. "Was ist denn?" Er schaut genauso ratlos zurück, was mich wiederum zum lachen bringt. "Samu? Wie konntest du nur Lehrer werden? Wo warst du in der ersten Klasse? Ich sehe ein Fahrrad.." Ich deute vielsagend darauf, "und wir sind zwei Personen. 1. 2. Soll ich vielleicht doch meins von nebenan holen?"
"Ach so, das meinst du.." Samu lacht nun ebenfalls leise auf, "und du brauchst wahrscheinlich eine Brille! Hier.." Er hebt mich hoch und setzt mich auf den Gepäckträger, "gibt es durch Zufall einen Platz für die werte Dame. Den Gepäckträger. Vielleicht sollten wir doch mal zum Augenarzt gehen.." Theatralisch und heftig nachdenkend, die Stirn in Falten gelegt, steht er da. "Und Nein, ich denke du bist dort bestens aufgehoben.. Außerdem wollen wir doch noch nicht riskieren, dass uns deine Eltern einen Strich durch die Rechnung machen!" "Du Spinner! Lass uns endlich losfahren, sonst ist der Flohmarkt zuende bis wir da sind!"
So bläst mir kurz darauf der leichte Wind ins Gesicht. Meine Hände fest verschlungen um Samu's Hüften, sitze ich da und genieße diesen wundervollen Sommertag. Und da sag einer in Finnland wäre es immer nur kalt! Es gibt durchaus warme Tage. Heute ist so ein Tag. Von Zeit zu Zeit, wirft Samu mir einen fürsorglichen Blick zu, welchen ich jedesmal mit einem breiten Lächeln und einem Kuss auf seine Wange erwidere. Alles rauscht an uns vorbei. Die Menschen, die Häuser, die Stadt. Viel zu schnell neigt sich unsere rasante und durchaus gefährliche Fahrt dem Ende zu. "Ich lebe noch", rufe ich leise aus und danke Gott, dass er Erbarmen mit uns hatte. "Was soll das denn heißen?" Samu legt einen beleidigten Gesichtsausdruck auf und wendet sich von mir ab. "Auf der Rückfahrt kannst du ja fahren. Wirst schon sehen wie schwer es ist, vor allem mit mir auf dem Gepäckträger. Das geht ganz schön in die Beine."
"Das war ein Scherz."
"Ich weiß." Er fasst bereits zum dritten oder vierten Mal an diesem Tag nach meiner Hand. Nichts mit verstecken. Samu nimmt die Gefahr gesehen zu werden in Kauf. Er scheint meine Unsicherheit wieder einmal zu spüren. "Entspann dich. Jetzt ist sowieso alles egal." Ich nicke, obwohl sein Tipp leicht dahergesagt ist. Meine Augen fliegen trotzdem hin und her. War das.. Oder da.. Habe ich nicht gerade Niilo in der Menge gesehen..? Ich schüttele unwillig den Kopf und lasse mich nach einer Weile doch auf die vielen schönen Sachen des Flohmarkts ein und beginne Spaß an der ganzen Sache zu finden. Mit Lea wäre so ein ruhiger und entspannter Nachmittag niemals möglich gewesen. Und beim Wort Flohmarkt hätte sie wahrscheinlich koplett gestreikt. Dabei würde ich ihr gerne diese Atmosphäre zeigen. Es herrscht eine lockere und gut gelaunte Stimmung. Die Verkäufer sind äußerst freundlich. Auch gehandelt wird gelegentlich, zumindest wenn der Betrag im Rahmen bleibt. Ich nehme diese Eindrücke in mich auf und lasse sie wirken. Ein Stand hat es mir besonders angetan. Als ich gerade die antiken Porzellangeschirre betrachte sehe ich eine ähnlich junge Frau wie mich. In ihrem Arm hält sie ein kleines Kind, welches ruhig und selig schläft. "Warum bist du das nicht?", fragt die Stimme in meinem Kopf. Kraftlos lasse ich die Arme sinken und schaue angestrengt auf den Boden. Samu, der meinem Blick aufmerksam gefolgt ist, nimmt mich in den Arm, sodass jeder nur seine gut gebaute Brust sieht und nicht die einzelnen Tränen, welche ich lautlos verdrücke. "Pscht, Evelyn. Nicht traurig sein." Er stützt seinen Kopf sanft auf meinem ab und schlingt seine Arme noch fester um mich. Augenblicklich höre ich auf zu weinen und schaue noch leicht verheult zu ihm hoch. Hier ist er wieder. Samu mein großer Beschützer. In dem Fall passt die Beschreibung wohl ganz gut. "Danke, dass du da bist."
"Für dich doch immer." Wie Samu wieder versucht die Situation auszunutzen. Er weiß mittlerweile ganz genau mit welchen Worten er mich rum kriegt. Langsam schlendern wir weiter. Ich habe mich wieder gefangen und betrachte mit großem Interesse die kleinen und großen Kunstwerke. Ein Bild springt mir sofort ins Auge. Ich spreche den Mann auf finnisch an und frage ihn etwas aus. Der antwortet geduldig und findet tatsächlich die passenden Worte für dieses Gemälde. Ich betrachte es noch einmal intensiv und stelle immer mehr Ähnlichkeiten, bezüglich unserer Charaktere fest. An sich ist das gemalte Bild relativ unspektakulär. "Ein Ausschnitt der zwei sich berührenden Hände aus Michelangelos Gemälde "Die Erschaffung des Adam", wie der hilfsbereite Verkäufer weiter erzählt. Ich nicke und schweife gleichzeitig ab. Ich finde, dass dieses Bild unsere Beziehung perfekt wiederspiegelt. Die Hände, welche sich zaghaft einander nähern, sich jedoch nicht wirklich trauen einander ganz zu umfassen. Sich ganz dem anderen gehören zu wollen oder auch zu können. Diese Hände drücken noch keine wirkliche Zuneigung aus, sondern tiefe Unsicherheit, vielleicht auch Angst, den anderen verletzen zu können.. Samu reißt mich aus meinen wirklich tiefsinnigen Gedanken. "Wenn du willst kaufe ich es dir." Noch ganz in meine Interpretationen vertieft, nicke ich leicht und sehe kurz darauf wie Samu dem Mann das Geld reicht und mir währenddessen kurz zuzwinkert. "Du warst eben so nachdenklich. Gefällt mir, schaust dabei verdammt sexy aus." Ich boxe Samu spielerisch in die Seite und werde schlagartig wieder ernst. "Ich wollte dieses Bild nicht nur haben, weil ich es an sich schön finde, sondern weil ich denke, dass dieses Bild eine Geschichte erzählt. Für jeden wird es eine andere Geschichte sein, doch was zählt ist die Bedeutung. Dieses Gemälde hat für mich eine tiefere Bedeutung, deshalb wollte ich es vermutlich auch haben." Achselzuckend warte ich auf Samus lachen. Doch es bleibt aus. "Unsere Geschichte." Er küsst mich so sanft, dass es wehtut, als wäre ich aus Glas- oder vielleicht auch aus Zucker.. Das weckt in mir das Bedürfnis nach mehr. Mitten in der Öffentlichkeit solch intime Dinge auszutauschen ist für mich reichlich ungewohnt, doch mit Samu an meiner Seite scheint alles ganz natürlich, normal, wie selbstverständlich. Gerade will ich mich ganz diesem Gefühl hingeben, als...
"Evelyn?!"