~9~

312 33 12
                                    

Ich schaute gedankenverloren aus dem Fenster der Kutsche. Mit der Dämmerung wurde es kühl, und die klappernde, schlechte Einfachverglasung der Fenster isolierte die Kabine nur dürftig.

Das andauernde, schöne Grün vor dem Fenster verwandelte sich durch die einbrechende Dunkelheit in schlieriges Grau und die Konturen und Kontraste wurden immer unschärfer, bis ich mich fast blind fühlte, wann immer ich durch die Scheiben hinausspähte.

Ich war erschöpft und vertraute dem seltsamen Jungen, der mir gegenüber in der Kutsche saß, noch lange nicht.

Wer weiß, was alles noch passieren konnte? Ich sollte besser optimistisch bleiben. Oder... naiv.

Dieser Jemand hatte gerade für kurze Zeit geschlafen, die unverletzte Hand über das notdürftig verarztete Auge gelegt, und es war einsam still geworden.

Es war auch so einsam. Selbst wenn er mit mir sprach.

Ich kannte niemanden. Ich hatte keine Chance auf jeglichen meiner sozialen Kontakte, der Menschen zu dem machte, was sie sind. Es war nur eine kurze, ungewisse und verschwommene Zeit, die ich an diesem seltsamen, altertümlichen Ort verbracht hatte, aber es reichte aus, um meine gesamte Existenz über den Haufen zu werfen. Ich sehnte mich zurück nachhause, zu meiner eingebildeten Halbschwester Susan, die mir nun doch sehr liebenswert erschien, und meiner Freundin Lilian. Ob sie mich wohl suchte? Oder befand ich mich doch etwa auf einem neuartigen Drogentrip?

Ich seufzte in mich hinein, gab mich meinen verrückten, verzweifelten Gedanken geschlagen.

Der fremde Kerl im weißen Hemd hatte etwas von Drachenreitern gesagt. Er hatte Menschen meiner Zeit "Drachenreiter" genannt.

War es ein verbreiteter Name, im Sinnbildlichen, für das Lager? Oder redete er tatsächlich von den riesigen Fabelwesen?

Wenn es wahr wäre und es Drachen gäbe - was in meiner jetzigen Situation nicht auszuschließen war - würde das bedeuten, ich wäre nicht einfach in der Zeit gereist (was schon lediglich gedacht absurd genug klang).

Ich wäre in einer anderen Welt.

Diese Theorien schienen so verrückt, wie in einem klischeehaften Fantasyroman oder etwas in der Art, aber tatsächlich war die Hälfte aller Dinge, die mir bis heute unter die Augen gekommen waren, mehr als klischeehaft. Ich konnte es noch lange nicht begreifen. Es war, wie wenn man auf dem Konzert seines größten Idols war - der berühmte, geliebte Sänger aus dem Fernsehen und von Bildern stand leibhaftig vor einem, in Fleisch und Blut, man atmete die selbe Luft und teilte den selben, riesigen Platz der Show. Aber dennoch glaubte man es einfach nicht. Dennoch dachte man, man sieht sie oder ihn einfach nur auf einem Bildschirm, wie sonst auch, wenn man die Videos von ihnen auf Youtube sah.

Youtube... so entfernt von allem, was ich momentan vor mir hatte.

Eine fremde... Welt. Es klang so abwegig und abstrakt. Beinahe albern.

Meine Gedanken erschlugen mich. Ich wurde müde, aber an Schlaf war nicht zu denken. Ausgelaugt lehnte ich meinen Kopf nach hinten an die dünn gepolsterte, dunkle Lederwand.

"Danke. Danke dafür, dass Ihr mir mit meinen Verletzungen geholfen habt. So guten und scharfen Alkohol hatte noch kein Arzt hier."

Die Stimme aus der Dunkelheit erschreckte mich kurzzeitig. Seine Anwesenheit hatte ich komplett verdrängt.

Ich suchte nach Worten, kramte währenddessen das Desinfektionsmittelchen aus meiner Tasche und hielt es ihm entgegen.

"Bitte...", ich lächelte leicht, "da ist kein Alkohol drin. Hier, nimm es."

Golden FairytaleWhere stories live. Discover now