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Auch ich hatte ein wenig geschlafen, sonst wäre die ewig lange Fahrt niemals umgegangen.

Nun saß ich einfach nur da, vor Hunger kaugummikauend, und hing meinen Erinnerungen nach. Joshua schlief schon seit zwei Stunden tief und fest, und bei jeder Bodenwelle, die die Kutsche kurzerhand in die Luft katapultierte, zuckte ich mit einem Blick auf den Schlafenden zusammen. Doch dieser hielt sich wacker und wachte kein einziges Mal auf.

Erst als die Kutsche plötzlich ruckartig hielt, begann er zaghaft zu blinzeln.

Vorher jedoch konnte ich es nicht lassen, ihn beim Schlafen zu beobachten. Auch wenn es im ersten Augenblick vielleicht seltsam klingen mochte - ich liebte es Jungen meines Alters und etwas darüber beim Schlafen zuzusehen. Sie wirkten dann so friedlich, natürlich und verletzlich, dass man - wahrscheinlich von Mutter- oder Beschützerinstinkten geleitet - den Blick kaum abwenden konnte. Dann verstellten sie sich nicht, verletzten einen nicht, und selbst die schrecklichsten Arschlöcher wirkten wieder menschlich.

Dieser Frieden ging von ihnen aus, diese Ruhe. Und von Joshua nun ebenfalls.

Es war ein seltsames Gefühl, ihn anzusehen und jede Sekunde mitzuerleben, aber zu wissen, dass er ohne Erinnerung aufwachen würde, als hätte er nur für eine Minute die Augen geschlossen.

Aber natürlich wachte Joshua irgendwann auf - gegen Nachmittag, als die Kutsche hielt.

Und tatsächlich waren seine ersten Worte, nachdem er sich kurz orientiert hatte, gewesen: "Und war es interessant, mir stundenlang beim Schlafen zuzusehen?"

Ich wurde knallrot. Es dauerte unendlich lange, bis ich begriff, dass er es gar nicht bemerkt, sondern nur so gesagt hatte, ohne Hintergrund.

"Ja", antwortete ich einfach kleinlaut und lächelte meine Gedanken weg.

"Wir sind am Goldsee", begann er mit verschlafener Stimme zu sagen, "aber bevor du zurückkannst, müsstest du erst von den Drachenreitern wissen wie - und bis wir bei denen sind, dauert es noch."

Ich nickte. "Alles klar. Aber... hast du den See gerade Goldsee genannt?"

"Ja."

Ich warf einen Blick aus dem Fenster, aber konnte nichts erkennen außer grünen Sträuchern. Kein See.

"Da, wo ich herkomme, heißt er ebenfalls Goldsee. Aber warum heißt er überhaupt Goldsee? Er hat rein gar nichts mit Gold zu tun... oder? Silbersee läge dem Wasser viel näher...", überlegte ich laut.

Geheimnisvoll lächelnd strich Joshua sich das Hemd glatt, nahm seinen Degen und eine Art weißes, hochwertiges Uniformjacket, das ich vorher nicht in der Kutsche hatte hängen sehen, und sprang aus der Tür in hohes, trockenes Gras.

Er streckte eine Hand zu mir aus. Dankend ergriff ich sie, auch wenn ich es nicht nötig hatte, und ließ mich auf den Boden geleiten, in der anderen Hand meine Tasche.

"Ich kann dir heute Abend zeigen, warum der Goldsee Goldsee heißt."

"Und warum?"

"Geduld", säuselte er, "das kann man mit Worten nicht beschreiben."

Damit musste ich mich zufrieden geben. Wieder wurde es still.

"Wer ist Maren eigentlich? Wodurch kennt ihr euch?", versuchte ich das Gespräch aufrechtzuerhalten.

Joshua fuhr sich abermals über das verletzte Auge. "Als ich jünger war, war sie wie eine Mutter für mich. Sonst... hatte ich keine Familie."

Gerade wollte ich etwas erwidern, aber ein scharfes Geräusch lenkte mich ab. Plötzlich schoss ein Pfeil an unseren Köpfen vorbei. Wie ein Warnschuss.

Joshua riss mich zu Boden. Ich unterdrückte einen Schrei. Mit einem kurzen, hellen Ton prallte der Pfeil gegen einen kleinen Findling, der wenige Meter links von uns im hohen Gras lag. Panisch schaute ich mich um.

Joshua packte meinen Arm und zog mich zu dem massigen Stein, doch bevor er mich zum Schutz dahinter drängen konnte, riskierte ich einen Ausfallschritt zur Seite und ergriff schnell den Pfeil, der neben mir auf dem Boden gelandet war. Dann brachte ich mich in Sicherheit.

"Bist du wahnsinnig?!", zischte Joshua zu mir herüber, während er einen goldverzierten Dolch in den Händen drehte. Genau der, mit dem in sein Gesicht geschnitten wurde.

Wir kauerten mit dem Rücken an den Stein gepresst am Boden. Ich hörte mein Herz pochen. Jeden Moment könnte von irgendwoher der nächste, letzte Pfeil kommen, der mein Leben innerhalb kürzester Zeit beenden würde. Das Blut rauschte in meinen Ohren.

Joshua machte Anstalten um den Findling herumzugehen. Schnell krallte ich mich in seinen Ärmel und zog ihn zurück.

"Bist du wahnsinnig?!" Ich hielt den Pfeil mit der messerscharfen, widerhakenbesetzten Eisenspitze hoch. "Das sind Bodkin-Spitzen, die ziehen sich einmal ganz durch deinen Kopf, ohne Chance auf Rettung!"

"Wie bitte? Woher willst du das wissen? Du bist ja wirklich wie die aus dem Lager..."

"Ja, und Wissen ist Macht. Jetzt bleib unten. Ich habe Ahnung vom Schießen. Mit dem Pfeil willst du keine Begegnung machen."

Ich konnte Joshua ansehen, wie er sich einen sarkastischen Kommentar verkniff, doch er duckte sich tatsächlich wieder. Wenn auch widerwillig seufzend.

Aber der Schutz des Findlings währte nicht lange. Nach wenigen Sekunden tauchten gleichzeitig rechts und links von uns zwei Schützen auf.

Ich unterdrückte einen Aufschrei. Mir wurde abwechselnd heiß und eiskalt. Bodkinspitzen, kreischte mein Gehirn immerzu, dein Todesurteil. Unvorstellbare Durchschlagskraft. Mittelalterlicher englischer Langbogen.

Ich kniff die Augen zusammen. Ich wollte das Eisen nicht auf mich zuschnellen sehen.

Ich hörte nichts mehr. Ich sah nichts mehr. Bitte, lasst mich einfach sterben, einfach schnell. Ich hatte nie gedacht, dass ich einmal nur noch dem Tod mit dem Tod entgehen wollte. Aber eine Flucht war aussichtslos.

Plötzlich lag ein Arm um meinen Schultern, zog mich hoch. Panisch riss ich die Augen auf, verlor die Orientierung in Zeit und Raum. Die Angst hatte mir den Kopf gestohlen.

"Mayra, Mayra, alles gut", flüsterte eine sanfte Stimme an mein Ohr. "Alles in Ordnung, May."

Langsam beruhigte ich mich wieder. Es war Joshuas Stimme, die so nah bei mir war. Ich dankte Gott für seine Nähe, einfach, dass er neben mir war und mich zu beruhigen versuchte. Aber ich durfte nicht zusammenbrechen. Ich musste meine Nerven wiederfinden.

Ich schaute hoch. Die Schützen hatten die Bögen gesenkt.

"Keine Sorge, es ist alles gut, ich kenne sie", murmelte Joshua wieder in mein Ohr. Er hatte die Arme um mich gelegt, hielt mich fest und verhinderte somit gleichzeitig, dass ich unberechenbar ausflippen konnte.

So sehr ich mich auch einfach fallen lassen wollte, ich musste mich von ihm losmachen und aufrecht stehen.

"Wir sind die Stehlenden Engel. Die höflichsten Verbrecher der Welt." Neckisch lächelnd zwinkerte mir der eine von den beiden Schützen zu.

"Verzeiht, falls wir Euch erschreckt haben, Verehrteste", sagte er zuckersüß, verbeugte sich und gab mir einen Handkuss.

Verwirrt starrte ich ihn an, zu mehr Reaktionen war ich nicht fähig.

Nur so zur Information im Nachhinein: ich überlasse euch bewusst den "Spaß" selbst, die "Bodkin-Spitze" bzw. "Bodkin Pfeile" zu googlen. Ich selbst schieße natürlich nur mit den heutigen Carbon- und Alu-Pfeilen, schließlich ist es eine Sportart, nicht zu vergessen, aber nicht einmal davon will ich getroffen werden. Habe ein bisschen Fachwissen, aber ich glaube, man muss nicht viel Phantasie haben, um sich das vorzustellen :O

Die Stealin'Angels waren eigentlich nur mal eine Randidee, aber ich fand sie ganz okay und Verstärkung kann nie schaden. Ihr werdet sie noch genauer kennenlernen!

Allerliebste Grüße,

Eure    dragon_flies_     :)

Golden FairytaleWhere stories live. Discover now