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Selten hatte mich ein Anblick dermaßen zu Tränen gerührt... die Natur hatte schon oft meine Gefühle verwirrt und an die Oberfläche gebracht, aber an diesem Tag war es besonders heftig. Ich war ausgelaugt, unsicher und überwältigt.

Ich lehnte mich neben Joshua zurück auf den weichen Boden und sah nur noch gedankenlos den Sonnenuntergang an. Er hatte recht - nirgendwo waren meine alten Probleme ferner als hier. Nunja, nun gab es nur noch meine neuen.

Ich sah Joshua kurz an. Mit halb geschlossenen Augen schaute er in die Sonne und schien beinahe einzuschlafen. Es war unglaublich von ihm gewesen, eine gesamte - wohlverdiente - Nacht und Schlaf für Maren zu opfern. Er war ein Helfer. Und ein Kämpfer. Und auch ein Beschützer. Aber warum war er heute so und morgen so zu mir? Abweisend, kalt, genervt, launisch, unberechenbar? Fürsorglich, hilfsbereit, freundlich, warm, interessiert und aufmerksam? Das würde mich auf Dauer um den Verstand bringen.

Ich wandte mich wieder dem See und dem leuchtenden Farbenschauspiel zu, das sich mir bot. Gold, feuriges Funkeln, wohin man auch sah... auf dem Grund des Sees, am Himmel, auf dem Wasser, an den Bergspitzen. Die ersten Sterne tauchten am gegenüberliegenden Horizont auf - und sie waren golden. Selten hatte mich ein Sternenhimmel so sehr fasziniert.

***

Die Sonne war lange verschwunden, der Himmel schwarz und von goldenen Pünktchen gesprenkelt, und die Nacht brachte langsam, aber sicher Kälte mit sich. Wir hatten uns auf den Weg gemacht, im Dunkeln am Ufer um den See herumzulaufen bis wir die andere Seite erreicht hatten. Es ging schneller als gedacht, auch wenn man auf den wackligen, nassen Kieseln schnell ausrutschte.

Am Fuß eines kleinen Berges, keine zehn Minuten Wanderung im stockdunklen Wald, trafen wir auf eine kleine Holzhütte.

Ich strich über die splitternden Holzplanken. Feucht und ziemlich verwittert, aber sicherer als eine Nacht unter freiem Himmel.

Müde wankten Joshua und ich in das kleine Gebäude, das aus einem breiten, aber nicht sonderlich geräumigen Flur mit zwei Türen, die zu zwei schmalen, langen Zimmern führten, bestand. Zwei Räume, ein Flur, aber die Hütte war deutlich großer, als sie von außen schien.

"Morgen ist Samstag... Training in den Ferien fällt aus... aber Wecker auf halb... Joshua, wann soll ich morgen aufstehen? Wann wollen wir weiter?", murmelte ich gedankenverloren - eher etwas durcheinander in den Welten - und hob fragend den Kopf, während ich auf meinem Handy die Weckfunktion suchte.

Verdutzt sah er mich an. "Wieso fragst du mich das?"

Ich schaute genauso überrascht zurück. "Gibt es hier keine Zeiten? Irgendetwas, wonach ich mich richten muss? Einen Plan? In meiner Welt muss ich jeden Alltag um kurz vor Sechs raus. Es gibt Regeln. Und hier?"

"Willkommen in meiner Welt." Joshua schwenkte seinen Arm präsentierend und einladend über den Raum und die offene Haustür hinweg. "Hier kannst du meinetwegen länger schlafen als Dornröschen, du willst schließlich zurück, nicht ich. Und jetzt Gute Nacht, ich schlafe gleich auf der Stelle..."

Mit einem halben Lächeln verschwand er in der rechten Tür.

"Warte...!", rief ich ihm unschlüssig hinterher. Er drehte sich im Türrahmen um.

Ich druckste kurz rum. Ich kam mir langsam selbst wie eine dauerfragende Nervensäge vor...: "Du hast von Dornröschen gesprochen; in meiner Welt ist das ein bekanntes Märchen... und hier? Gibt es sie wirklich?"

Joshua kam einen Schritt zurück. "Ein Märchen? Das arme Mädchen liegt seit hundert Ewigkeiten in einer anderen Nation in einem Schloss, aber das ist zugewuchert von Rosen. Wahrscheinlich ist sie längst tot, da kommt ja niemand hinein oder hinaus durch all die Dornen. Aber ich frage mich eher, wie die Geschichten von Dornröschen in deine Welt gekommen sind..." Fahrig strich er sich durch das dunkle Haar, das noch immer leicht feucht vom Schwimmen war, und gähnte.

Golden FairytaleWhere stories live. Discover now