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Ich hätte nie gedacht, dass ich schon in wenigen Stunden vollkommen fremden Boden unter den Füßen, einen schweren Umhang um meinen Schultern und massive Natursteinmauern rings um mich herum haben würde. Fremder als die Sommerwelt, in der ich mich anstatt meines Zuhauses befand.

Aber noch saß ich neben Joshua auf dem Baumstamm am Feuer, sah in seine lächelnden, strahlend blauen Augen, und war inbegriffen etwas Ruhe zu finden. Joshua setzte an, etwas zu erwidern - doch in dieser Sekunde kippte die Stimmung auf der Lichtung.

Das Feuer wurde auseinandergerissen, zig Fackeln schwebten von zitternden Händen umklammert in der Luft. Warnrufe durchbrachen die nächtliche Stille, unzählige Schritte brachten die Erde zum Vibrieren.

Die beiden Männer, die uns angegriffen hatten, stürmten auf uns zu, drückten mir meine Tasche und Joshua seinen Degen in die Hand. "Jetzt kannst du beweisen, für wen du stehst, du elender Verräter!", schrie der eine Joshua ins Gesicht und verschwand im Geäst hinter uns in der Nacht. Erschrocken starrten wir uns an, nur für die Dauer eines Herzschlages, bis wir begriffen, was geschah.

"Die Garde. Verdammt." Joshua riss mich hoch, schob mich in den Schatten. "Ich kann für keine der beiden Seiten kämpfen. Wir müssen fliehen." Er schaute sich hastig nach Eléh um, die gerade mit Matheo davonlief.

Unschlüssig stand ich da, hin- und hergerissen zwischen dem Fluchtinstinkt und Joshua, der sich der kreischenden Menschenmenge zugewandt hatte, den Degen angriffsbereit in der rechten Hand, nach weißen Hemden in der Dunkelheit suchend. Doch wie konnten die Vogelfreien ihn von den anderen Gardisten unterscheiden? Sie würden versuchen ihn zu töten. Das erste metallische Scheppern klang zwischen den Baumstämmen hindurch, Klingen trafen auf Klingen, Hassparolen auf Flüche und Flehen.

Joshua legte mir mit Nachdruck den Dolch in die Hand. "Los jetzt. Such Conner und seinen Drachen, von dem er gesprochen hat - meine Gardemannschaft fürchtet sie, sie gelten immer noch als böses Omen und Waffe der Drachenreiter. Also ihr, ihr Weltenwandler, sie werden euch beiden vielleicht nichts tun. Sie kennen dich nun. Pass auf, ja? Und jetzt geh!" Er stieß mich von sich fort, als ich einen letzten Schritt auf ihn zu machte. Ich sah ihn still an, in der Hoffnung verloren, dass noch einmal alles gut werden würde.

Ich drehte mich um, lief halb blind von Dunkelheit und Laternenschimmer in das Unterholz. Tausende Dornen krallten sich in meine Haut, zerkratzten sie unablässig, doch der Schmerz wurde von der Angst verdrängt. Wann würde das endlich aufhören? Wann war ich endlich wieder in der Sicherheit meiner Welt? Mir blieb nie auch nur ein einziger ruhiger Moment.

Noch während ich lief und hitzig darüber nachdachte, wie ich in diesem Durcheinander Conner finden sollte, packte mich jemand am Arm. "May, warte! Wo willst du hin?"

"Ich suche dich!", erleichtert starrte ich in die Dunkelheit, aus der Conners Stimme erklungen war.

"Gut, komm mit - wo ist Joshua?"

"Er kämpft."

Aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Wie gern hätte ich nun sein Gesicht gesehen, um den Ausdruck darauf deuten zu können.

Nach wenigen Sekunden traten wir auf eine weitere Lichtung. Im Schein der umstehenden Fackeln lag ein gigantisches Tier am Boden, von schillernden, stahlharten Schuppen bedeckt und mit der messerscharfen Schwanzspitze über den Waldboden fegend. Vorsichtig, um nicht getroffen zu werden, trat Conner auf den Drachen zu, der mit seiner gespaltenen, lederigen Zunge über eine fast verheilte Wunde an seinem Flügel leckte. Die stechenden, großen Augen fixierten Conner neugierig, und er gab ein erfreutes Glucksen von sich.

Ich hielt gebührenden Abstand von der riesigen geflügelten Echse, auch wenn ich bereits auf ihr geflogen war. Gefährlich waren die Kleindrachen dennoch - aber eigentlich mochten sie Menschen.

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