Keine Lügen

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Mein Handy klingelt und Mats Name erscheint auf dem Display. „Hey.", sage ich, als ich den Anruf annehme. „Hey.", erwidert er erschöpft. „Langer Tag, Mh?", frage ich und er bestätigt meine Vermutung. "Wie war deine Schicht?", fragt er und ich erzähle ihm, wie ruhig alles war. „Kann ich vorbeikommen?", fragt er dann. „Natürlich.", sage ich. „Gut, denn ich bin eh schon vor der Tür." Überrascht setze ich mich auf. „Was? Aber wieso telefonieren wir dann noch?", doch da legt er mit einem Lachen auf.

Als er durch die Wohnungstür kommt, umarmt er mich und küsst mich auf den Mund. "Was wäre gewesen, wenn ich nein gesagt hätte?", frage ich provokant. "Dann hätte ich wohl ein paar Mal klingeln müssen.", antwortet er und zieht mich näher zu sich. Ich nehme ihn bei der Hand und ziehe ihn in mein Zimmer. Dort leuchtet immer noch die Lichterkette und Mat entdeckt sofort den Mädchenfilm auf dem Laptop. Er sieht mich urteilend an und ich verdrehe die Augen. Plötzlich hebt er mich hoch und ich schreie auf. "Ich habe dir gesagt, du sollst deine Augen nicht verdrehen.", sagt er gespielt ernst. Er wirft mich aufs Bett und legt sich auf mich drauf. "Bist du kitzelig?", fragt er. "Nein.", sage ich ernst, doch dann testet er es aus und ich fange laut an zu lachen. "Du lügst mich also an, mh?", fragt er und kitzelt weiter. "Aufhören, bitte.", lache ich. "Bitte hör auf." "Was kriege ich dafür?", fragt er frech. "Alles.", kreische ich. Dann hört er abrupt auf und sieht mir in die Augen. "Dann will ich das gemütliche Kissen vom letzten Mal.", sagt er mit so ernster Stimme, dass wir uns kurz anstarren, bevor wir laut los lachen.

Wir legen uns ins Bett, er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Kopfleiste und ich kuschle mich in seinen Arm ein. Er nimmt meine Hand und spielt an ihr herum. "Du weißt, dass ich dir niemals sagen kann, wie mein Tag war, oder?", fragt er nachdenklich. "Aber warum nicht? Ich weiß doch, dass du der Anführer der Blinders bist." "Aber du hast keine Vorstellung davon, was das bedeutet. Und zu deinem eigenen Schutz sollte das auch so bleiben. Kannst du das akzeptieren?" Ich überlege einen Moment. 

Werde ich irgendwann damit klarkommen, nicht zu wissen, was er macht und ob er heil nach Hause kommt? Oder wird sich seine Einstellung dahingehend irgendwann vielleicht doch ändern? "Daran wird sich niemals etwas ändern, das kann es gar nicht.", sagt er und ich frage mich, ob ich meine Gedanken aus Versehen laut ausgesprochen habe. "Hast du Angst davor, was ich von dir denken könnte?", frage ich. Ein undefinierbarer Gesichtsausdruck bestätigt meine Vermutung. "Das wohl auch.", sagt er und muss schwer schlucken.

"Ich bin nicht blöd, ich bin aus der selben Gegend wie du. Ich weiß, was hier vor sich geht und was eine Gang so alles macht.", beginne ich. "Behandle mich nicht so, als wäre ich aus Zucker. Wir wissen beide, dass das so nicht funktioniert. Du willst mich nicht anlügen, aber du willst mir Dinge verschweigen - das ist beides bullshit. Meine Antwort lautet nein, ich kann das nicht akzeptieren.", sage ich ruhig, aber bestimmend. "Dann hat das hier alles keinen Sinn.", sagt er enttäuscht. 

"Daran machst du das fest? Warum behandelst du mich immer so, als würde ich das nicht verstehen können?", frage ich. Mir wird ziemlich warm und mein Puls erhöht sich. Doch das, was ich zu sagen habe, ist eine Herzensangelegenheit und deshalb fühlt es sich verdammt richtig an. "Wie meinst du das?", fragt er irritiert. "Du willst mich vor Dingen beschützen, die ich schon lange kenne. Wir sind gerade bei MIR zu Hause, schon vergessen? Weißt du, wie viele an Drogen krepierte Leichen ich hier schon gesehen habe? Mein Vater ist früh verstorben und meine Mutter konnte damals nur Französisch. Sie musste schnell lernen und einen Job finden, aber denkst du, das ist einfach? Ich weiß nicht, wie es ist am Ende des Monats noch Geld auf dem Konto zu haben und ich kann wahrscheinlich nicht einmal ohne die Sirenen der Polizei nachts einschlafen. Etienne hat seit seinem 14. Lebensjahr gearbeitet, damit wir diese Wohnung nicht verlieren und ich bin mir sicher, dass er deshalb mit dem Kämpfen angefangen hat. Wir sind mit Drogen, Alkohol und Freunden aus den falschen Kreisen aufgewachsen. Ich wurde in der Grundschule zusammengeschlagen, weil ich kaputte Kleidung trug. Als ich Hitch und diese Mädels gesehen habe, da hat wurde mir schlecht. Ich hatte Glück, einen großen Bruder, der mich aus allem raushielt, sonst wäre ich vielleicht an jemanden wie ihn geraten. Ich hatte einfach nur beschissenes Glück, wie auch dabei dass ausgerechnet du mir hilfst, die Schulden zu bezahlen. Ich weiß, wer du bist und ich verurteile dich nicht. Du hingegen scheinst dir schon ein genaues Bild darüber gemacht zu haben, was ich verkraften kann und was nicht; doch das stimmt nicht. Du hast gesagt, du vertraust mir..." Mein Atem geht schwer, ich habe viel zu wenig Luft geholt und mich zu sehr in Rage geredet. Mat streicht mir mit seinem Daumen über die Wange. Ich habe nicht gemerkt, dass ich weine.

Eine Zeitlang ist es still um uns und ich komme mir doof vor, so eine Ansprache gehalten zu haben. "Du hast recht.", bricht er das Schweigen. Fragend sehe ich ihn an. "Du bist aus dem selben Viertel wie ich, aber du kennst nur die Oberfläche allen Übels.", beginnt er. "Ich kann nicht ewig um dich herumtanzen und dir Dinge verschweigen." Es klingt nach einem Schlussstrich und Angst steigt in mir auf. "Fuck, aber ich kann auch nicht ohne dich. Ich weiß, ich komme dafür in die Hölle und wer weiß, wie das alles hier ausgeht..." 

"Bist du bereit meine Welt kennenzulernen und damit die Tiefen unseres Viertels?", fragt er dann und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was er da sagt. "Ja.", sage ich und lächle erleichtert. "Gut. Willst du also mit mir zusammen sein, Julie?", fragt er und nimmt meine Hand. "Ja.", lächle ich und wir küssen uns.

Mat (POV)

Da schläft sie in meinen Armen, diese wunderschöne, sture und einzigartige Frau. Ihren Kopf presst sie fest an mich, während ihre Hand auf meinem Bauch ruht. Ein leichtes Lächeln liegt auf ihren Lippen. Es ist bereits zwei Uhr nachts, doch ich kann einfach nicht schlafen. Die Ansprache, die sie mir vorhin gehalten hat, hat all das, was die anderen mir heute erklärt haben, bestätigt. Sie will diese Frau sein, die bleibt, doch wie kann ich wissen, dass sie das wirklich verkraftet? Ich werde sie langsam an all das heranführen und ich wünsche mir nichts mehr, als dass sie es versteht und dass ihr nichts geschieht...

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now