Abgehauen

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„Er ist weg, dieser Feigling.", schimpfe ich und ziehe an meiner Zigarette. „Glaubst du wirklich, er würde euch einfach alleine lassen?", fragt Steph, meine gutgläubige, ein bisschen in mein Bruder verknallte, beste Freundin. „Klar, warum auch nicht? Ist doch viel einfacher so. Scheiße, ich weiß nicht einmal, wie viele Schulden er bei diesen Arschlöchern gemacht hat." Ich schüttle mit dem Kopf und ein verbittertes Lächeln macht sich in meinem Gesicht breit. „Ich muss mir einen Job suchen, sonst sind wir bald obdachlos." Steph seufzt. „Was sagt deine Mum dazu?" Ich trete meine Zigarette aus und atme schwer aus. „Was soll sie schon sagen? Ihr geht es schon seit Wochen schlecht, sie arbeitet nicht, sie bekommt kein Geld. Ergo muss ich das jetzt übernehmen."

„Hallo ihr Hübschen.", kommt Jasper auf uns zu. Wir umarmen uns zur Begrüßung. „Ihr wisst aber schon, dass wir Unterricht haben?" „Sagt der, der gerade erst aufgetaucht ist.", lacht Steph. „Ich brauche meinen Schlaf.", antwortet er dramatisch und fährt sich durchs Haar. „Lange Nacht gehabt?", frage ich und bereue es sofort. Ein schelmisches Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. „Allerdings. Isabelle hat eine Wahnsinns Ausdauer." Ich tue so, als müsste ich brechen und Steph dreht sich genervt weg. Jasper sieht gut aus, keine Frage. Mit seinen Muskeln, seinem blonden Haaren und seinen braunen Augen kriegt er die meisten Mädels hier rum. Das Problem ist nur, dass er ganz genau weiß, wie gut er aussieht.

Wir gehen gemeinsam zur Klasse und als wir die Tür öffnen, drehen sich 20 Köpfe zu uns um. „Ach, wie schön, dass sie sich doch noch entschieden haben, dem Unterricht beizuwohnen.", sagt Mr. Black. „Aber natürlich, wie könnten wir denn auf ihren Unterricht verzichten.", singt Steph und klappert mit ihren Fake-Wimpern. Wieder könnte ich kotzen, doch stattdessen lächle ich bestätigend. Mr. Black verdreht die Augen. „Jasper, das ist das dritte Mal, dass sie diese Woche zu spät kommen. Können Sie mir das erklären?" Jasper hebt abwehrend die Hände. „Mr. Black, ich würde wirklich gerne pünktlich zu ihrem Unterricht erscheinen...", holt er aus. „...aber ich kann mich den Frauen nicht verwehren. Das ist eine Frage der Ehre." Dieser ekelhafte Typ. Gelächter bricht aus und Mr. Black schüttelt fassungslos den Kopf. „Setzt euch einfach."

„Sehen wir uns heute Abend bei Lenny?", fragt Jasper uns. „Klar.", entgegnet Steph. „Wahrscheinlich nicht." , antworte ich und ernte dafür zwei entgeisterte Blicke. „Ich muss mir einen Job suchen, schon vergessen?" Jasper verdreht die Augen und legt seinen Arm um mich. „Meine liebe Julie, dein Bruder ist ein Freigeist, genau wie ich. Wir verschwinden manchmal, aber wir kommen immer wieder. Und zwar mit einer guten Geschichte. Mach dir keine Sorgen, Tie wird wiederkommen." Jasper und Etienne haben sich immer gut verstanden, es war klar, dass er ihn in Schutz nimmt. Ich befreie mich aus seiner Umarmung und gehe einen Schritt voraus. „Alles schön und gut, aber ich kann nicht warten, bis er mit einer guten Geschichte wiederkommt. Das interessiert die Vermieter nämlich nicht." 


„Hast du Erfahrungen als Kellnerin?", fragte mich die Frau hinter dem Tresen genervt, ohne mich anzusehen. „Nein, aber ich lerne schnell." Die Antwort hörte sie wahrscheinlich immer. „Das werde wir sehen.", murmelte sie. Sie warf mir eine Schürze entgegen und wies mich an, zu Bruno zu gehen. Bruno ist so etwas wie der Oberkellner. Er ist ungefähr zehn Jahre älter als ich, groß und sehr dünn. „Hey, ich bin Julie. Mir wurde gesagt, ich soll zu dir gehen.", sprach ich ihn an. „Hey.", lächelte er freundlich. Erleichterung machte sich breit, denn anscheinend gab es wenigstens eine nette Person in diesem Diner. Er zeigte mir alles, worauf ich achten muss, erklärte mir die Tischnummern und wie ich mich zu verhalten hatte.

Nachdem ich die ersten Bestellungen ziemlich vermasselt hatte und fest damit rechnete, gleich rausgeschmissen zu werden, lief es allmählich besser. Ich brachte gerade zwei Burger an einen Tisch, als die Tür aufging und sechs Typen das Diner betraten. Sie redeten aufeinander ein, gestikulierten dabei wild und setzten sich an einen meiner Tische. Sie waren alle dunkel gekleidet, hatten eine Cap auf und strahlten etwas gefährliches aus. Dann sah ich dem ersten ins Gesicht und erschrak. Das waren Mitglieder der Blinders. Die Blinders hatten sich vor wenigen Jahren in diesem Viertel breit gemacht, nachdem sie die Falcones verscheucht hatten. Es war damals ziemlich gefährlich auf die Straße zu gehen und einige Anwohner wurden bei Schießereien verletzt. Etienne hat mich damals immer überall mit dem Auto hingefahren. Er war zu besorgt, dass mir etwas passieren könnte. Jetzt ist das Auto weg - und er. Die guten, alten Zeiten...

Ich nehme all meinen Mut zusammen und gehe an den Tisch. „Hey, was kann ich euch bringen?", frage ich so nett wie möglich. Alle Augen richten sich auf mich. Ich kann genau sehen, wie sie mich von oben bis unten mustern. „Wer bist du?", knurrt einer von ihnen. Seine Cap ist tief ins Gesicht gezogen, sodass ich seine Augen nicht erkennen kann. Ich sehe lediglich seine ausgeprägten Wangenknochen und ein paar blonde Haare hervor blitzen. „Ich... bin Julie.", stottere ich. „Und wo ist Sarah?", fragt er. „Die hat gekündigt." Die anderen lächeln, offensichtlich amüsiert über meine Unsicherheit. „Na schön, Julie.", sagt er plötzlich. „Dann kannst du dir jetzt folgendes merken: Immer wenn wir herkommen, bestellen wir vier Whiskey, zwei Gin Tonic, drei Bacon Bürger und drei mit Double Cheese." Ich versuchte mir die Bestellung einzuprägen, doch ich war so nervös, dass ich sofort alles vergessen hatte. Weil ich mich nicht traute nachzufragen, ging ich einfach nickend davon. Scheiße, was soll ich denen nun bitte bringen?

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now