Bruder

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"Trink einen Schluck Wasser.", sagt er und reicht mir eine Flasche. Mir ist vollkommen Schleierhaft, wo er die jetzt her hat, aber ich bin dankbar dafür. Das kalte Wasser bringt mich dazu, wieder ruhiger zu Atmen und einen klaren Kopf zu kriegen. "Tut mir Leid. Gerade hat alles für mich Sinn gemacht.", sage ich und schaue beschämt zu Boden. Wieso muss ich mich immer so benehmen? Er muss denken, ich bin eine verrückte Prinzessin. "Ist ok.", antwortet er knapp. Ja, er denkt definitiv, dass ich verrückt bin. "Ich suche einfach nach einem Grund, einem richtigen Grund dafür, dass er mich hier zurückgelassen hat.", sage ich mehr zu mir selbst als zu ihm. "Kann ich verstehen.", sagt er geistesabwesend. "Hast du ihn gekannt?" Die Frage brennt mir auf der Zunge, seit dem ich diesen Brief gefunden habe. "Nein.", sagt er. "Nicht persönlich, aber ich habe deinen Bruder öfter gesehen. Du musst wissen, dass nur die Leute eine Einladung bekommen, die selbst mindestens einmal im Ring standen." Ich atme schwer ein und wieder aus. Das bedeutet, dass es wahr ist: Etienne hat hier gekämpft. Und das bedeutet auch, dass Mat in diesem Kreis stand und auf jemandem so brutal eingeschlagen hat.

"Ich bringe dich jetzt nach Hause.", verkündet Mat nach einer kurzen Schweigepause. "Okay.", sage ich und bin ihm dankbar dafür. Ich wäre nicht dazu in der Lage, den selben Weg mit Bus und Bahn noch einmal zu fahren. Er legt mir eine Hand auf den Rücken und drückt mich leicht nach vorne, sodass ich mich in Bewegung setze. "Sind die anderen gar nicht hier?", frage ich auf dem Weg zu seinem Auto. "Nein, sie kämpfen hier nicht.", antwortet er.

Wie selbstverständlich steige ich auf der Beifahrerseite ein. Ich war in den vergangenen Wochen wirklich viel zu oft in diesem Wagen. Mat stellt die Musik ein, macht sie aber viel leiser als sonst und fährt los. Wir schweigen überwiegend, aber es ist kein unagenehmes Schweigen, sondern eines, dass notwendig ist, nachdem, was passiert ist. Als ich zu Mat rüberschiele, sehe ich, wie die Ader an seiner Schläfe pocht. Das tut sie manchmal, wenn er nachdenkt und dabei seine Stirn in Falten legt. Ich würde zu gerne wissen, was er denkt, doch ich traue mich nicht, etwas zu sagen.

Als wir vor unserer Wohnung halten, entsperrt Mat die Autotüren nicht. "Ich habe dich eben angelogen.", seufzt er. Ich halte in meiner Bewegung inne und sehe ihn fragend an. "Womit?" Tausend unklare Gedanken schießen mir auf einmal durch den Kopf. "Ich kenne Etienne, aber ich war mir nicht mehr sicher. Ich habe mal gegen ihn gekämpft.", gesteht er. Mit offenem Mund sitze ich da und versuche das, was er mir erzählt hat, zu verarbeiten. Ich schüttle irgendwann den Kopf, um diese vielen Gedanken loszuwerden und lasse mich wieder in den Sitz fallen. Ich starre nach vorne, starre die Laterne an, die flackert. "War er schwer verletzt?", frage ich monoton. "Eine gebrochene und eine angebrochene Rippe." Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was für Schmerzen das sein müssen. Etienne wird damit wohl kaum zum Arzt gegangen sein; stattdessen hat er so getan, als wäre alles gut. Er war immer arbeiten, mit Freunden unterwegs oder bei mir. Wie konnte er das so kaschieren, dass niemand davon etwas bemerkt hat? Wieder schüttle ich den Kopf und wische mir die einzelne Träne weg, die mir aus dem Auge kullert. "Und du?", frage ich. "Was, ich?" "Warst du verletzt?", frage ich und sehe ihn an. Ein schiefes Schmunzeln huscht über sein Gesicht. "Ein blaues Auge, einen angebrochenen Finger. Hätte ich damals schon diese doofe Creme gehabt, wären die Tage danach deutlich einfacher gewesen." Ich muss schmunzeln und schließe dabei die Augen. Wie schafft er es, mich jetzt zum Lachen zu bringen?

"Ich fasse das alles nicht. Etienne ist so wichtig für mich und ich bekomme zunehmend das Gefühl, ihn gar nicht richtig gekannt zu haben.", seufze ich. "Wir alle haben unsere Geheimnisse, oder nicht?", fragt Mat. "Haben wir das?" "Wusste Etienne wirklich alles von dir? Absolut alles?", fragt er und zieht eine Augenbraue hoch. "Nein, wahrscheinlich nicht...", flüstere ich.

"Hör mal, wenn es dir so unendlich wichtig ist, deinen Bruder zu finden, dann kann ich mich mal umhören.", sagt Mat und entsperrt die Türen. "Wirklich?", frage ich überrascht. Ich hätte ihm so viel Hilfsbereitschaft nicht zugetraut. "Ja. Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Wenn selbst Hitch ihn nicht finden konnte, kann ich mir kaum vorstellen, dass irgendejmand anderes weiß, wo er ist." Er hat natürlich recht, aber dennoch bahnt sich ein kleiner Hoffnungsschimmer seinen Weg. "Danke... für alles.", sage ich schüchtern. Dafür, dass Mat der Anführer einer Gang und ziemlich unberechenbar ist, hat er mir schon ziemlich oft geholfen - und das in so einer kurzen Zeit. "Das ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, dass du das ernst meinst.", sagt er und sieht mich dabei nicht an. "Und jetzt gib mir meinen Pullover wieder.", lenkt er vom Thema ab. Überrascht sehe ich ihn an. "Ja, anscheinend hat der einen schlechten Einfluss auf dich. Und bevor du dich noch einer Gang anschließt oder selbst zur Kämpferin wirst, will ich ihn wiederhaben." Seine Augen leuchten strahlend grün und ein frecher Gesichtsausdruck huscht ihm übers Gesicht. "Aber ich habe nichts drunter.", gestehe ich und werde rot. "Das ist kein Problem für mich.", grinst er und ich hätte fast meine Augen verdreht. Stattdessen schüttle ich den Kopf und verschränke die Arme. "Kommt nicht in Frage." "Da gibt es nichts, was ich nicht schon gesehen habe.", sagt er trocken. "Ja, aber ich bin nicht dazu da, um deine Erinnerung daran wieder aufzufrischen.", kontere ich und steige aus dem Wagen.

Mat wartet so lange, bis in der Wohnung das Licht angeht. Erst dann fährt er davon...

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt