Du bist keine Nutte

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Wieso hatte er mir aufgetragen, Leroy zu warnen? Weil ich ihn kenne? Weil er doch so etwas wie ein Herz hat? Nein, es muss eine andere Erklärung dafür geben. Und dann wären da noch die tausend anderen Fragen, die ich mir stelle. Wieso war er so nett zu mir, in der Zeit, in der ich den Blinders etwas schuldete? Ich muss schon zugeben, dass ich die 10.000€ leicht bei ihnen abgearbeitet habe. Als wäre es ihm gar nicht um das Geld gegangen... Und wieso ist er jetzt wieder so ein Arschloch?

Ein klingeln reißt mich aus meinen Gedanken. Irritiert sehe ich zur Uhr. Es ist 22:30 Uhr - wer sollte denn jetzt bei uns klingeln? Vorsichtig stehe ich auf, gehe durch die Wohnung in das Wohnzimmer und schaue auf die Straße. Nichts. Doch dann klingelt es wieder und ich laufe panisch zur Tür. Ich öffne sie, damit Maman nicht geweckt wird. Nach einiger Zeit erkenne ich eine dunkle Kapuze, auf den letzten Metern schaut er hoch. „Mat.", sage ich entsetzt. „Kann ich reinkommen?", fragt er mit belegter Stimme. Geistesabwesend nicke ich und versuche seine aufgeplatzte Lippe zu ignorieren. Er sieht schlimm aus, wirklich schlimm. Sein ganzes Gesicht wird durch diverse Verletzungen entstellt und als ich ihn ins Wohnzimmer lotse und die Tür schließe, sehe ich die abgeschürften Fingergelenke. Ich schalte die Lichterkette auf der Fensterbank ein, sodass wir nicht komplett im Dunkeln sitzen.

„Was machst du hier?", frage ich, als ich mich neben ihn auf das Sofa setze. Er sieht mich mit einem traurigen Blick an. „Keine Ahnung.", haucht er und ich glaube ihm. Seine Augen sind blutunterlaufen und glasig, als hätte er kaum geschlafen und dafür viel getrunken. „Hast du Leroy gewarnt?", fragt er dann. „Ja, ihm geht es gut. Ich danke dir dafür.", sage ich und er schaut auf. Ich beschließe, die Frage nach dem Warum auf später zu verschieben. „Deine Verletzungen sehen übel aus.", stelle ich fest. „Ja? Ich spüre sie nicht einmal." Ich stehe auf und hole den erste-Hilfe-Kasten aus der Küche. „Darf ich?", frage ich, als ich ihm ein Wattepad hinhalte, dass in Alkohol getränkt ist. Er nimmt mir die Flasche aus der Hand und trinkt einen großen Schluck puren Wodka. „Jetzt ja."

Ich nehme sein Gesicht in die Hand und tupfe vorsichtig die Stellen ab, während er das Gesicht verzieht. „So.", sage ich und stehe auf. Er schnappt sich meine Hand und schaut von unten zu mir auf. „Danke." Ich wende mich mit einem Schmunzeln ab.

„Hast du gewonnen?", frage ich, nachdem ich den Kasten wieder weggebracht habe. „Ich habe noch nie verloren.", sagt er. „Dann hast du gegen Etienne damals auch gewonnen?" „Nein, unser Kampf wurde abgebrochen." „Warum denn das?", frage ich.  „Weil da so ein paar Spinner waren, die Gegenstände in den Kreis geworfen haben. Wir sollten uns laut denen mit Brettern und so einem scheiß zusammenschlagen. Der Kampf wurde pausiert, das hat denen nicht gepasst und dann gab es eine Massenschlägerei." Klingt nach einer wirklich großartigen Veranstaltung.

„Du bist keine Nutte.", sagt er wieder einfach so in die Stille hinein. „Ich weiß.", sage ich trocken und er muss schmunzeln. „Keine Ahnung, warum ich das gesagt habe." Mir würde da schon etwas einfallen, aber ich behalte es lieber für mich.

Seine ganze Erscheinung wird von Minute zu Minute, die er hier sitzt, ruhiger. Er scheint sich zu entspannen und als seine Fäuste nicht mehr geballt sind, atmet er einmal tief ein und wieder aus. „Sieht süß aus.", sagt er und blickt belustigt an mir herab. Ich folge seinem Blick, weil ich nicht weiß, was er meint. Meine Schlafsachen! Ich sitze hier in einer rosafarbenen Hotpants aus Stoff und einem weißen T-Shirt, auf dem „I love Cupcakes" steht. Wie peinlich, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Beschämt wende ich meinen Blick ab, da spüre ich, wie seine Finger meinen Kopf vorsichtig wieder zurückschieben.

Wir sehen uns in tief in die Augen, doch mir ist bewusst, dass wir uns nicht küssen werden. „Kann ich hier übernachten?", fragt er zu meiner Überraschung. Und auch, wenn ich sauer auf ihn sein sollte, wenn ich ihn wegstoßen und aus meinem Leben verbannen sollte, nicke ich. Ich nehme seine Hand und führe ihn in mein Zimmer. Er sieht sich um und schmunzelt. Kein Wunder, es ist viel zu klischeehaft. Angefangen mit der rosa Wandfarbe, die ich mir mit sechs Jahren so sehr gewünscht habe; über das weiße Bett, bis hin zu meinem Kleiderschrank, der aus allen Nähten platzt. Von der Dekoration mit den vielen Fotos und Kerzen wollen wir gar nicht anfangen. Das alles hat sich einfach so angesammelt und sonst hat noch nie ein Mann mein Zimmer betreten, der nicht mit mir verwandt ist.

„Schön hast du es hier.", sagt er. „Wusste gar nicht, dass du auf rosa und Kerzen stehst.", scherze ich verlegen. „Ich kann auch im Wohnzimmer schlafen, wenn du willst." Ich schüttle den Kopf. „Meine Mutter ist nachts manchmal wach und irrt herum. Du würdest sie zu Tode erschrecken." Er nickt und dann zieht er sein T-Shirt aus und seine Hose. Er steht vor mir, nur noch in Boxershorts gekleidet. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tattoos er hat. Sein Oberkörper ist voll davon und ich kann nicht umhin, sie anzustarren.

Vorsichtig schlüpft er zu mir unter die Decke. Er hält ein wenig Abstand zu mir, doch ich spüre trotzdem seine Wärme. Genauso wie ich sein Aftershave rieche, das mir den Verstand zu benebeln scheint. Ich spiele mit dem Gedanken, näher zu ihm zu rücken. Mein Herz schlägt schneller bei dem Gedanken, doch ich versuche stark zu bleiben.

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now