Der weiße Wolf

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Als ich an diesem Morgen mit William auf dem Schoß aus dem Fenster sah, hatte ich – wie so oft in letzter Zeit – ein ganz mulmiges Gefühl. Draußen sah man jetzt wieder Gras unter den inzwischen matschigen Überresten der Schneedecke. Der Winter musste dem Frühling weichen. Die Sonne ließ sich auch immer öfter blicken. 


Trotzdem herrschte in unserem Anwesen eine eisige Stimmung....
Der Klang von zerberstendem Glas schreckte mich auf. Ruckartig drehte ich mich um.

Hinter mir standen Anthony und Mariella und warfen eingeschüchterte Blicke zu mir. Sie wussten immer genau, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Aber ich brachte es nicht um mich, sie deswegen auszuschimpfen. Es war einfach eine Zumutung für drei kleine Kinder niemals, ins Freie zu dürfen. Zwei Monate war es jetzt her, seit Rosalie im Wald angefallen worden war. Seitdem waren die Kleinen nicht mehr alleine gewesen. Es war immer jemand da, niemals waren weniger als drei Personen hier. Ich selbst war auch nicht mehr jagen gewesen. Ich aß zusammen mit meinen Kindern am Tisch. Jake gab sich alle Mühe es uns gleich zu tun, aber er konnte kaum still sitzen und fühlte sich am wohlsten, wenn er in Wolfsgestalt ums Haus herum patrouillieren konnte. Und er war auch nicht mehr allein...

Ich erinnere mich noch genau an den Sonntag vor etwas weniger als zwei Monaten, als es plötzlich an der Tür klingelte. Die Tatsache, dass Alice dies nicht sehen konnte, hatte uns allein schon verunsichert. Als dann plötzlich Leah und Seth nervös auf der Türschwelle standen, waren wir alle überrascht gewesen – obwohl es eigentlich nichts unrealistisches war.

„Wir haben von dem großen Wolf erfahren“, hatte Seth gesagt. „Wir müssen Sam regelmäßig Bericht darüber erstatten. Er konnte nicht mit uns kommen, weil er für seine Familie sorgen muss, aber er ist sich sicher, dass ihr allein klar kommt und das regelt.“

„Hat Sam eine Idee wer oder was der weiße Wolf sein könnte?“, hatte Jacob dann gefragt.

Seth hatte nur den Kopf geschüttelt. „Nein.“

„Aha“, antwortete daraufhin Emmett. „Und wenn ihr euch sicher seid, dass wir allein klar kommen, warum hängt ihr dann hier rum?“
Daraufhin waren ihre Augen direkt zu mir gewandert. Was für eine Frage...

„Nessie..“, hatte Seth dann vorsichtig angefangen. „Wir wissen, dass es dir nicht sonderlich gefällt, was passiert ist..“

„.. ist schon in Ordnung“, unterbrach ich ihn rasch.

Ich hatte nur verdutzte Blicke geerntet, doch Leah und Seth hakten nicht weiter nach. Sie waren einfach nur froh, dass sie nun bei Will und Mariella sein konnten.

Und ich war auch froh darüber. Wenn sie nicht gerade wie jetzt durch den Wald liefen, waren sie in der Tat eine große Hilfe. Sie hatten immerzu ein Auge auf die Kleinen und halfen auch bei deren Versorgung mit. Sie spielten mit ihnen, gaben ihnen zu Essen und lasen ihnen vor dem Schlafen gehen Geschichten vor.

Das Einzige was mich bei der Sache nur noch störte, war die, dass sie sich wirklich fast nur auf „ihr“ Kind konzentrierten. Seth sah immerzu nach Mariella und Leah bekam ihre Augen nicht von Will. Als ich das bemerkt hatte, hatte ich für mich selbst entschieden, mich umso mehr um Ani zu kümmern. Ich war mir sicher, dass er sich wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen musste, denn mit seinen Geschwistern wurde immerzu gespielt und er wurde teilweise sogar eiskalt ignoriert. Die Art und Weise, wie die geprägten Werwölfe auf die Kleinen fixiert waren, war wirklich über alle Maße abnormal. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, ob es bei mir auch so war, oder ob es jetzt noch so ist.

Vielleicht sah ich aber auch nur Gespenster und es kam mir nur so vor, als ob sie meinen Jüngsten wie Luft behandelten. Inzwischen hatte ich mich auch mehr oder weniger damit abgefunden. Es war schon seltsam.. zuerst hatte ich mich darüber aufgeregt, dass sie sich geprägt hatten, jetzt war ich sauer, weil eines meiner Kinder keinen hatte, der sich auf es geprägt hatte...

Rising Sun - Biss das Licht der Sonne erstrahlt (Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt