Kapitel 4~

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Es stellte sich heraus, dass Len ziemlich gut in Mathe war und er das Fach bloß wählte, um mir auf die Nerven zu gehen.
Und gerade in diesem Moment saß er vor mir in der Schulbibliothek. Sein Buch war offen, damit es so aussah als ob er lernen würde, doch in Wirklichkeit fuchtelte er mit seinem Handy unter dem Tisch. Allerdings machte ich mir nicht die Mühe mein Buch aufzuschlagen, da ich sein schreckliches Geheimnis entlüftete.

"Du willst mich doch verarschen!", ärgerte ich mich und schaute ihn verächtlich an. Er lachte jedoch bloß und grinste mich an.

"Du bist ein Ass in Mathe? Warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich hätte dieses Kindertheater einfach auslassen können!"

"Wir müssen die Zeit miteinander verbringen", kam es von ihm schnell. "Wenn nicht, kriegen wir die Stunden nicht gefüllt in denen wir 'lernen' müssen. Außerdem, gibt es irgendjemanden mit dem du diese wunderschönen Abend lieber verbringen würdest, als mit mir?", fragte er lachend.

"Ja", sagte ich immer noch aufgebracht. Verwirrt schaute er mich an, denn wir beide wussten, dass es niemanden gab, bloß sagte er nichts. Er war zu nett.

"Ich meine, dass es keinen Spaß macht mit einem zwei Jahre jüngeren Kind abzuhängen. Viel lieber wäre ich Zuhause. Du Held."

Natürlich lachte er bloß darauf und nahm es als Kompliment, wie ich es von ihm auch erwartet hätte.
Mit einem Schnauben ließ ich mich auf den Stuhl fallen und starrte aus dem Fenster, gelangweilter denn je. Klar, ich hätte durchaus etwas Produktives machen können, wie zum Beispiel Hausaufgaben oder Lens Kram, aber ich war nicht wirklich in der Stimmung dazu und konnte mich kaum konzentrieren. Nach dem, was ich heute gehört hatte ganz sicher nicht.

Alles war so...verdammt unrealistisch. Was er mir erzählte - der Mann, dessen Namen ich immer noch nicht kannte, wie mir wieder auffiel -, klang so, als ob es einer Science Fiction Story entnommen wäre, aber es stimmte, leider.

Ich kannte ihn nicht. Er war gefährlich und alles an ihm brachte mich zum Zweifeln, von seinen Augen mal abgesehen. Und doch glaubte ich ihm jedes einzelne Wort, das er von sich gab. Nun ja...er lieferte mir heute Antworten und das war auch alles was ich brauchte, oder?


Seufzend legte ich beide Arme verschränkt auf den Tisch und legte meinen Kopf darüber, um etwas Ruhe zu bewahren. Verlangte dieser Typ wirklich, dass ich ihm diese 'Du-wurdest-entführt'-Geschichte glauben würde, die er mir aufgetischt hatte? Das ganze klang wirklich mehr als verrückt und falsch. Was war los mit mir? Über all die Jahre dachte ich, dass sie wegen eines Unfalls ums Leben gekommen waren. Die ganze Zeit über war mir nicht aufgefallen, dass es eben kein Unfall war. Klar, die Polizei ging von einem Anschlag aus und andere spekulierten von einem beschädigtem Gasrohr und anderem Kram, welches ich schon lange vergessen hatte.
Für einen Moment wunderte ich mich, wie er all das wusste, aber dann wurde mir klar, dass er meine vermeintliche 'Feindin', die mir nach dem Leben trachtete kannte. Diese Ophelia - er stand ihr Nahe, ein Grund mehr ihm nicht zu vertrauen.

"Evi?"

Len schaute mich an und gähnte.
"Wie lange sind wir schon hier?"
"Keine Ahnung", sagte er und streckte sich. "Wie auch immer. Abendessen steht bei mir an, also sollten wir für heute fertig sein. Wir sehen uns morgen, okay?"

Er nahm sich seine Tasche und verließ die Bibliothek mit einer einfachen Handbewegung.
Abendessen also. Irgendwie vermisste ich es, so was zu machen. Sofort wurde mir schwer ums Herz und die gute alte Dunkelheit machte sich in mir breit und verbreitete Hoffnungslosigkeit in mir. Dieselbe Hoffnungslosigkeit, wie damals, als die Polizei mitten in der Nacht mir mitteilte, dass die beiden Opfer der Explosion meine Eltern waren. Sie fragten, ob ich irgendwelche Verwandten hätte, aber genau wie ich waren sie Einzelkinder. Selbst Großeltern waren schon vor Jahren verstorben ich kann mich bis heute noch kaum an sie erinnern.
Und deshalb war ich alleine und diese Einsamkeit ergriff mich an einem Ort wie diesem, mit all den Menschen um mich herum, an einem Ort, der gekünstelter denn je war.

ChangedWhere stories live. Discover now