Kapitel 21~

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Es waren erst einige Sekunden vergangen, seit Marty seinen letzten Kommentar gemacht hatte und während er gespannt auf die Rückkehr Julies wartete, schweifte ich mit den Gedanken mal wieder ab. Ich dachte an Reyk, wie er mich mal wieder im Stich gelassen hatte bei einem eigenartigem Typen, der dazu auch Doktor war. Ich schaute wieder zu Marty, der mittlerweile ein fettes Grinsen auf dem Gesicht hatte, aber es war kein Reyk-Grinsen. Sondern eher ein Kleinkind-Grinsen, kindisch und überhaupt nicht Erwachsen. Machte ihm vielleicht Reyks Anwesenheit zu schaffen? Verübeln konnte ich es ihm natürlich nicht, denn der Typ war wahnsinnig, aber jetzt schien er wie ausgewechselt und das bestätigten mir auch seine nächsten Worte.

"Evilein!", rief er glücklich und ich zuckte zusammen. Wie hatte er mich gennant? Evilein, war das sein Ernst? Niemand sollte mich so nennen! Weder Reyk noch Marty!

"U-um...ja?", fragte ich dann etwas aus dem Konzept. Es war wirklich eigenartig meinen Namen so zu hören, wenn es nicht von Reyk kam.

"Spielst du gerne Videospiele? Du bist bestimmt gut darin, oder? Julie spielt oft mit mir und sie gewinnt jedes Mal..." Ein Schmollen tauchte auf seinem Gesicht auf und er kreuzte seine Arme vor der Brust. Es war so, als ob er den plötzlichen Drang hatte, wieder ein Kind zu sein.

Das war auch der einzige Gedanke, der gerade durch meinen Kopf ging und warum er so plötzlich so etwas aus dem heiterem Himmel wissen wollte. Aber...aber ich schätzte es machte irgendwie Sinn ihn besser kennen zu lernen, immerhin würden wir die nächsten Wochen...Monate? Ich hoffte inständig, dass es nicht mehr als ein Monat sein würde. Ich wollte hier wirklich nicht länger als nötig bleiben, obwohl ich auch nicht zu Reyks dunkler Wohnung zurückwollte. Ich sollte ihm eine Antwort geben, auch wenn er echt eigenartig war. Wieso kannte ich keine normale Menschen? Stimmt ja, ich war selber nicht normal.

"Um, ich habe vor fünf Jahren aufgehört zu spielen", murmelte ich und er schenkte mir einen verwirrten Blick. Seine braunen Augen trafen auf die meine und er zog eine Augenbraue in die Höhe.

"Hm...aber sind deine Eltern nicht vor zwei Jahren gestorben?", fragte er stirnrunzelnd.

Stutzend bemerkte ich, wie sensibel er mit diesem Thema umging, also schaute ich auf den Boden und ignorierte ihn. Wenige Momente später legte ich meinem Kopf sogar wieder auf den Tisch und machte ihm deutlich, dass unsere Unterhaltung offiziell beendet war. Er schien meine Andeutungen zu merken, denn auch er ließ seinen Kopf mit einem Seufzen auf den Tisch fallen. Anscheinend war er gelangweilt, aber ich nahm es ihm auch nicht übel oder so. Es war ja nicht so, dass ich die unterhaltsamste Person auf Erden war und das schon garnicht, wenn ich hier nicht mal sein sollte.

Trotzdem sollte ich doch mit ihm reden, oder etwa nicht? Nachdem ich seine anfänglichen Versuche abgeblockt hatte, sollte ich zumindest ein neues Thema anschneiden...sollte, aber um ehrlich zu sein, war es irgendwie sogar einfacher mit Reyk ein Gespräch zu führen, als mit diesem komischen Doktor. Das lag vielleicht daran, dass er normalerweise die Gespräche begann und eigentlich war es eher mich fertig zu machen, als sich wirklich zu unterhalten. Urhg, was war falsch mit mir? Kaum zu glauben, dass ich diese beiden verglich, als ob sie sich ähneln würden.

Müde lehnte ich mich zurück und ließ meinen Kopf nach hinten hängen. Meine Hände hingen runter und ich spürte ein Kribbeln in meinen Haaren. Vielleicht sollte ich mal wieder ein richtiges Bad nehmen, wenn Reyk mir meine Sachen brachte? Keine schlechte Idee...

"Evi, eine Sache würde ich dir gerne noch erzählen.", kam es von Marty, der wieder ernst wirkte. Das ging aber schnell, vor einigen Sekunden wollte er noch Videospiele spielen. "Ich mache es kurz und knackig, damit wir das schnell hinter uns bringen können. Wie du weißt, lebe ich hier zusammen mit Julie seit geraumer Zeit, aber sie leidet an Mutismus.. Aber du wirst sie ganz und sicher mögen, denn auch wenn sie im Großen und Ganzen schweigt, ist sie sehr liebenswürdig. Es ist zum Glück kein absoluter Mutismus, sonst würde ich wahrscheinlich durchdrehen, haha!", lachte er gezwungenermaßen. Mutismus? Absoluter Mutismus? War ich ein schlechter Mensch, weil ich noch nie davon gehört hatte?

"Ähm, Marty, ich verstehe echt kein Wort, von dem was du sagst..."

Erstaunt sah er mich an, aber dann entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. "Natürlich, natürlich, verzeih mir.", murmelte er. "Ich kenne mich leider selbst nicht sehr gut damit aus, wie gesagt, ich habe es nicht so mit dem Psychologischen. Aber Julie zuliebe habe ich mich damit befasst, willst du eine kurze Zusammenfassung hören?"

"Naja, wenn ich eine Weile hier leben soll, dann wäre das von Nutzen oder?", lächelte ich dieses Mal gezwungenermaßen.

"Mutismus bedeutet soviel wie Stummheit. Julie spricht nicht. Das liegt nicht an irgendeiner Fehlbildung in den Organen und auch ein Schlaganfall war nicht Auslöser ihrer Krankheit. Schlicht gesagt, liegt es an einer...Sozialphobie..?", einige Sekunden lang dachte er angestrengt nach. "Genau! Mutismus hängt mit Depressionen zusammen und für gewöhnlicher Weise tritt das eher im jüngeren Alter auf. Naja, sie ist jung, aber eben nicht so jung. Verstehst du alles soweit?", fragte er unsicher.

"Ich denke...schon", gab ich zögernd von mir.

"Gut, also, selektiver Mutismus ist, wenn die betroffene Person nur in Vertrauter Umgebung mit vertrauten Personen redet. Vielleicht wird sie eine Weile brauchen, um sich an dich zu gewöhnen, aber das wird nicht lange dauern ich habe nämlich auch dafür eine Art Hilfsmittel erstellt und wir machen Fortschritte. Ich gebe euch beiden drei Wochen, dann wird sie voll und ganz mit dir reden können. Sie ist eine unglaubliche junge Frau und ist unbeschreiblich fürsorglich, wenn man sie schon ne' ganze Weile kennt."

"Ach ja, wie lange kennt ihr euch denn schon?", fragte ich - ehrlich - interessiert.

"Seit ich Denken kann? Hm, nein, sagen wir seit ich neun oder zehn Jahre alt bin.", er lächelte und ich würde ihn in diesem Moment sogar fast als niedlich bezeichnen, aber eben nur fast.

"Also werde ich in Julie vorzeitig keine Gesprächspartnerin finden, sagst du?", hakte ich nach. "Du hast es erfasst." Gut, okay, schlimm war es nicht wirklich, ich war auch nicht besonders gesprächig also könnte ich vielleicht meine Seelenverwandte in ihr finden.

"Gut, ich denke das wird kein großes Problem für mich sein", versicherte ich ihm und er lächelte.

"Da bin ich erleichtert", lachte er und kratzte sich verlegen am Kopf. Schön und gut, aber wann sollte sie kommen? Er sagte etwas von 'zwei Minuten', aber es waren bereits einige Minuten verstrichen. Gerade wollte ich nachfragen, da wurde ich schon unterbrochen, weil die Haustür aufgeschlossen wurde. Ich drehte mich um und Marty hüpfte wie ein glückliches Kind auf und eilte zur Tür. "Julie! Du bist zurück!", rief er eine Spur zu aufgeregt. Ja, das schien Julie zu sein, also stand ich ebenfalls auf und wollte das neue Gesicht zumindest begrüßen.

Und ich könnte schwören, noch nie in meinem Leben hatte ich so eine schöne Frau gesehen. Sie war nicht Amelia-schön, sondern so richtig schön. Und das, was ich so unglaublich an ihr fand, waren nicht ihre Klamotten, um Himmels Willen, nein, die waren sogar furchtbar langweilig. Eine einfache schwarze Hose, ein schwarzer Rollkragenpullover und ein langer dunkelbrauner Mantel, den sie anhatte. Triste Farben. So wie ich es zwar mochte, aber das wunderschöne an ihr war das Gesicht. Ein schmales und leicht kantiges Gesicht, man konnte ihre Konturen perfekt erkennen. Ihr Mund war nicht zu groß und ihre Lippen nicht so unglaublich dick, so wie bei Amelia. Ihre grünen Augen waren ausdrucksstark, so leuchtend und ich hätte ihr ewig in die Augen starren können. Ihre schwarzen Haare hatte sie ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden und hatte ich bereits erwähnt, dass sie mit Leichtigkeit 1,80 groß war?

Marty riss mich aus dem Staunen. Er räusperte sich und schaute zu Julie, die mich ebenfalls entdeckte. "Das ist Evi", erklärte er. "Sie wird eine ganze Weile bei uns bleiben, also gewöhn dich bitte schnell an sie, ja?" Einen Moment lang machte sie den Mund auf, doch schloss ihn dann wieder. In ihrem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung, bloß einige Sekunden lang zog sie die Augenbrauen zusammen. Sie schaute ihn einen Moment lang an, ehe sie mit einem einfachen Nicken meine Existenz anerkannte.

Mit offenem Mund stand ich also da und war noch nie in meinem Leben so angetan von einer Person, wie von Julie. Ich wusste nichts über sie, aber ich wollte alles wissen. Von ihrer Schuhgröße, bis zu ihrer Lieblingsfarbe.

~

Drei Sachen. 1) mir ist bewusst geworden, wie faul ich bin. Sehr faul.
2) mir ist bewusst geworden, dass ich vor Hunden im Reallife Angst habe. Unglaubliche Angst!
3) mir ist bewusst geworden, dass ich mich für Philosophie interessiere!

Was ist euch in letzter Zeit so bewusst geworden? Irgendwelche Gedankenblitze? Interventionen?

ChangedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt