Kapitel 1~

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Selbstmord war nicht nur ein Gedanke, ein Gefühl, oder ein Wunsch nach der endgültigen Vollendung. Es war eine schwere Last, die sich auf unseren Schultern breit machte, so als ob wir die Last der ganzen Welt auf uns tragen würden. Eine Last, die von Tag zu Tag immer schwerer zu tragen wurde. Die immer lauter rumschrie. Sie schlug und trat immer wieder zu, damit man sie nicht vergaß. An manchen Tagen wog sie besonders viel, schrie sie besonders laut und schlug oder trat sie besonders stark zu. Und doch sehnte ich mich die letzten Jahre meines Lebens nach nichts mehr, als nach meinem Freitod.

Hier saß ich, müde auf dem Dach meines Appartements. Mein Haar fiel mir durch den Wind immer wieder ins Gesicht, was mich nicht sonderlich stören tat. Stumm holte ich meinen Block raus und beobachtete währenddessen die aufgeweckte Straße unter mir. Hektische Menschenmengen, die wie Ameisen von Termin zu Termin eilten und sich keinerlei Achtung schenkten. Seufzend widmete ich mich meinem Block zu und dachte nach, was mir nicht wirklich half, denn mir fiel tatsächlich nichts ein, worüber ich schreiben könnte. Etliche Minuten dachte ich angestrengt nach. Erneutes Seufzen. Stumm legte ich meinen Block dann jedoch zur Seite, stand auf und glättete meine Schuluniform mit meinen Händen.

Statt erfolgreich unterwegs zu sein, verschwendete ich meine Zeit immer noch damit, in der Schule zu hocken und weiterhin traurig zu sein. Seit letztem Jahr war ich nicht mehr so, wie ich es sonst mal war und rebellierte stattdessen. Auch wenn ich mir nicht erschließen konnte was mit mir los war. Ich wusste es immer noch nicht.
Und jetzt stand ich hier, am Rande des Daches, des Gebäudes in dem ich mit meinen 18 Jahren nun lebte. Niemand wusste, dass ich hier war, also würde mich auch niemand finden. So lebte ich die letzten Jahre.

Ich schaute runter, so wie ich es jeden Tag tat und fragte mich, wie es wohl wäre, von hier runterzuspringen. Niemand würde es bemerken, niemand würde sich an meine Wenigkeit erinnern und niemand würde wissen, wieso das Mädchen in den Tod sprang. Es wäre eine sowohl schreckliche, als auch eine widerliche Art so zu sterben, auch wenn es wahrscheinlich die poetischste gewesen wäre nach dem Glauben vieler. Aber nun mal nicht meiner. Nein, ich hatte kein Interesse daran, so zu sterben.

Die Sonne schien mir ins Gesicht, blendete mich. Hatte ich wirklich das Recht zu springen? Oder überhaupt den Mumm dazu?
Hatte ich das Verlangen so schnell wie möglich zu springen, ohne ein buntes und glückliches Leben auf dieser Welt geführt zu haben? Auf der Welt, die mir so viel Inspiration für meine Gedichte gab, meinen Geschichten über Liebe und tiefe Traurigkeit und über die Emotion, die mich am meisten irritierte - Fröhlichkeit.

Nein...ich schätzte nicht. Einige Sekunden lang schaute ich nach unten.
Runter zu den Menschen unter meinen Füßen. Ich beobachtete sie eine Weile. Ich war nicht anders als sie, aber meine Art des Denkens unterschied sich von ihnen durchaus. Ich fühlte mich schuldig. Was wenn sie auch etwas Pech hatten? Sie unglücklich waren? Hatte ich das Recht zu behaupten, dass sie ein perfektes Leben führten? Nein. Keiner von ihnen konnte unendliches Glück verspüren oder ein perfektes Leben haben.

Ich verspürte ein kleines bisschen Hoffnung in mir. Dass ich nicht die einzige war mit solch dümmlichen Gedanken des Selbstmordes und des Hasses verflucht war. Ich machte einen Schritt zurück und seufzte, als ich meinen Block wieder in den Händen hielt.

"Oh?" Eine Stimme ertönte von hinten. "Du wirst es nicht machen?"
Langsam drehte ich mich zu der Stimme um und erblickte einen Mann. Vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Er hatte schwarzes Haar und trug eine ebenfalls schwarze Jacke.
Aber das interessante an ihm war nicht sein Aufzug, sondern seine Augen.
Diese braun -fast schwarzen- Augen schienen mich zu erdolchen. Forschend sah er mich an.

"Was ist dieses Mal deine Ausrede?", fragte er und kam einen Schritt auf mich zu.
"Hast du Angst, so wie alle anderen?" Jetzt lachte er, als ob er irgendetwas Lustiges gesagt hätte. "Oder hast du realisiert, dass dein Leben vielleicht doch einen Sinn hätte?"
"Ich hatte nie vor zu springen.", erklärte ich ihm, doch wir beide wussten, dass ich log.
Natürlich dachte ich manchmal daran.
"Nun, du musst darüber nachgedacht haben" gab er prompt zurück, mit einem leichten Grinsen auf seinen Lippen. Seine Art des Sprechens ließ nicht zu wünschen übrig, geschweige denn das dunkle Lachen in seinen Augen. Das verstörende, aber dennoch beruhigende dunkel seiner Augen faszinierte mich schon die ganze Zeit. Er lehnte sich gegen das Geländer, das uns trennte.

Als er mit seinem Reden fortfuhr, wurde mir bewusst, wie sehr mich seine Augen, seine Stimme und die Dinge die er sagte, nicht mehr losließen.
"Ihr Menschen denkt, dass der Tod" er machte eine Geste und zeigte auf das Gebäude "vom Springen aus solcher Höhe euch einiges erleichtern würde. Besonders Menschen wie du. Du warst hier nun seit Wochen jeden Tag hier oben, hast nachgedacht, was du schreiben könntest, sagen könntest, vor einem Urteil, das nicht existiert. Die meisten Menschen hier unter uns wissen nicht mal wer du bist, also sag mir- warum leistest du ihnen dort unten nicht einfach Gesellschaft, statt darauf zu warten, dass sie hier her kommen?"

"Du meinst, wieso ich nicht einfach springe?", fragte ich ihn während er lächelte.

"Sag's mir."

Ich schaute nochmal runter auf die Menschen, die keine Ahnung von dem Mädchen hatten, das über ihnen stand und sie beobachtete.
Ich fragte mich erneut, wie es wohl wäre, ihnen 'Gesellschaft' zu leisten. Dort runter. Stellte mir vor, wie ich von der Dachrinne springen würde, die Luft mich peitschen würde, meine Haare und Klamotten zerreißen würden, während ich mit dem Kopf mach vorne fallen würde. Es würde sich anfühlen wie fliegen. Meine Arme würde ich öffnen und das umarmen, was mich erwartete, aber am Ende...

"Da ist keine Schönheit an einem Tod wie diesem.", sagte ich ihm und sein Lächeln verschwand und er wurde wie perplex, aber das düstere Lachen in seinen Augen blieb.
"Schönheit?", entgegnete er. "Ist da auch nur Ansatzweise 'Schönheit' in der Art, wie du dein Leben lebst?"
Ich sah ihn an. Es war wie die offensichtlichste Frage der Welt. "Ja...", sagte ich langsam "Ja, gibt es. Ich lebe in Dunkelheit, wo mich niemand finden kann, und niemand meine elende Existenz bemerkt." Jetzt schaute ich weg.

"Ich denke...dass dieses Elend für mich schön ist. Das Auftreten von Fröhlichkeit ist langweilig, aber wenn jemand vor sich hinkniet, sich selbst umarmt, sich Komfort verschaffen will. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe mehr als Respekt."

Als ich wieder zu ihm aufschaue, sehe ich, dass sein Grinsen wieder in seinem Gesicht ist und urplötzlich friert es mich. Das Amüsieren und das finstere Lachen in seinen Augen schien doppelt-nein verdreifacht zu sein und seine Augen schimmerten unter der hellen Sonne. Ich starrte ihn an, aber als ich meinen Mund öffnen wollte, um ihn zu fragen worüber er lächelte, begann er zu kichern, welches bald zu einem lauten Gelächter wurde.

"Was ist so lustig daran?" Langsam nervte er mich und je mehr er lachte, desto schneller wollte ich von hier weg.
"Nichts, nichts", sagte er dann endlich, noch immer schmunzelnd.
"Ich mag deine Sicht der Dinge! Ich habe noch nie ein Mädchen, wie dich gesehen!"

"Ach ja? Und was soll das bedeuten?"
Er ignorierte meine Frage und lehnte sich zu mir -immer noch grinsend- hinüber.

"Wie heißt du?", fragte er mich.
"Evi...", entgegnete ich langsam. "Und du?"
Er lehnte sich zurück gegen das Geländer mit seinem Rücken zu mir.
"Evi...", murmelte er vor sich hin. "Interessant." Plötzlich stand er auf und ging.
"Nun, ich denke, ich sehe dich dann morgen."
"Warte was?", rief ich ihm hinterher, als er die Tür öffnete. "Du gehst einfach, ohne dich vorzustellen?"
"Warum sollte ich?", fragte er, während er mir winkte. "Das findest du früher oder später schon heraus, meinst du nicht?"
"Was soll das heißen?", rief ich verwirrt, doch er war bereits weg, ließ mich auf dem Dach alleine zurück. Ich drehte mich verwirrt zu den Menschen unter mir. "Nein, da ist keine Schönheit an solch einem Tode."

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