Mittlerweile war schon später Nachmittag. Ich hatte meine Hogwartsuniform gegen eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover von Samuel eingetauscht. Wir standen auf einem alten, verwilderten Friedhof. Vor uns lag der Eingang zur Familiengruft der Nymphenfamilien. Die Leiche meiner Großmutter lag auf einer Bahre. Rocky, die Katze meiner Grandma, lag ebenfalls tot auf ihr. Kein Wunder. Schließlich war die Katze älter als mein Vater gewesen.
Vorsichtig schob mich mein Großcousin in die Gruft. Wir gingen einen Flur entlang. Ein Torbogen führte in die Mitte eines Raumes in der Form eines Hexagramms. An jeder Ecke des Sternes stand eine weitere Tür mit dem Symbol der jeweiligen Nymphe. Die Tür mit meinem Zeichen öffnete sich automatisch, als wir nähertraten.
Samuels Hand an meiner Schulter verkrampfte sich. Wir kamen wieder in die Mitte eines Raumes. Die Wand war mit einem riesigen Stammbaum verziert. Meine ganze Familie seit der Erstehung der ersten Nymphe. Unser Familiengrab. An der Wand mir Gegenüber war mein Familienzweig. Wir gingen dorthin. Samuel schob mich nach vorne. Jetzt war ich dran. Ich schloss die Augen. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf meine Aufgabe. Ich spürte, wie die Magie mich durchströmte.
Als ich meine Augen wieder öffnete, war die Leichen meiner Grandma und ihrer Katze verschwunden. Stattdessen lag ein Strauß Vergissmeinnicht auf der Bahre. Mit leicht zitternden Knien nahm ich die Blumen in die Hand, dann ging ich zu dem Bild meiner Großmutter. Die Lebensdaten waren dort drunter eingeritzt worden. Mit einer Hand öffnete ich den Verschluss meiner Kette. Mit der anderen hielt ich die Blumen fest, die früher einmal meine Großmutter und ihre Katze waren. Ich öffnete das Medaillon. Artemis erschien in mini Form. Die Göttin nickte mir kurz aufmunternd zu, dann wandten wir uns der Wand zu. Der Blumenstrauß fing an zu schweben und verschmolz mit der Wand.
„Pass gut auf sie auf", flüsterte ich Artemis zu.
„Das werde ich." Meine Göttin verschwand wieder. Jetzt war meine Grandma, wo sie hingehörte.
Meine Kehle fühlte sich wieder wie zugeschnürt an. Ein paar Tränen liefen mir über die Wange. Ich spürte, wie jemand meine Hand nahm und mich zurückzog. Im nächsten Moment hatte mein Vater mich im Arm. Meine Mum streichelte mir über die Haare.
„Es wird alles wieder besser", flüsterte sie immer wieder. Ich ließ mich einfach von ihnen trösten.

Irgendwann verließen wir die alte Grabstätte. Wir apparierten wieder zurück zu den Wohnwagen. Ein leichter Nieselregen prasselte auf uns herab. Ich zog mir schnell die Kapuze über. Einmal nass geregnet zu werden reichte mir innerhalb von 24 Stunden. Das brauchte ich kein zweites Mal.
Wir retteten uns in das große Zelt. Mit einem Zauber flogen die Tische und Stühle herein. Grandma Gracie, Tante Kirsten und Tante Mathilda fingen an zu kochen, während wir anderen zusammen saßen und redeten. Insgesamt war die Stimmung betrübt. Nur Elaina verstand nicht, was los war. Sie versuchte, wie immer allen ein Lächeln zu zaubern, nur dass es heute nicht klappte.
Ich hatte mich bei Dad auf den Schoß gekuschelt. Ich fühlte mich wieder wie das kleine fünfjährige Kind, das sich auf seinen Schoß heulend zusammengerollt hatte, weil Elizabeth unterwegs war. Ich hatte damals Angst, dass Samuel das jüngere Kind mehr lieben würde als mich. Dad hatte mich getröstet. Genauso saß ich jetzt auf seinem Schoß, nur dass ich jetzt um einiges größer war.
Als meine beiden Tanten und Grandma Gracie mit dem Essen kamen, kletterte ich von seinem Schoß. Ich setzte mich auf meinen Platz zwischen Samuel und Elizabeth. Auch beim Essen war die Stimmung bedrückt. Ich stocherte lustlos im Essen herum. Dieses Mal versuchte ich allerdings nicht, es in die einzelnen Bestandteile zu zerlegen.
Samuel trat mir leicht gegen den Fuß.
„Du solltest etwas essen", flüsterte er mir zu.
„Und nicht mehr so traurig sein", mauzte die kleine Katze auf meinem Schoß.
„Keinen Hunger", murmelte ich. Mein Großcousin trat mich etwas fester. Ich sah ihn kurz böse an, dann gab ich nach und fing an zu essen. Idiot.

Nach dem Essen ging ich mit Samuel, Elaina, Joseph, Lorraine, Elizabeth, Kira und Nicholas in den Wohnwagen von uns Mädchen. Die Zweijährige hatte es endlich geschafft, durchzusetzen, dass sie nun alt genug war, bei den anderen Mädchen zu schlafen. Im Wohnwagen angekommen, versuchte ich das müde Mädchen zu überreden sich bettfertig zu machen.
„Na komm Elaina. Wir gehen dir jetzt deinen Schlafanzug anziehen." Ich hob die Zweijährige hoch.
„Nicht Müde", erklärte Elaina. Seufzend ging ich trotzdem mit ihr rüber ins Schlafzimmer.
„Ich weiß, aber ein Schlafanzug ist doch viel gemütlicher."
„Nicht schlafen."
„Nein, wir gehen nicht schlafen." Ich setzte Elaina auf mein Bett und holte ihren Schlafanzug. Meine kleine Großcousine versuchte, sich die Schuhe auszuziehen, allerdings ohne viel Glück dabei.
„So geht das." Ich öffnete einen ihrer Klettverschlüsse. Sie machte sich an dem nächsten zu schaffen.
Mit etwas Hilfe schaffte sie es schließlich, ihre Schuhe auszuziehen. Ich sah ihr gerade lachend zu, wie sie sich an ihren Socken zu schaffen machte.
„So gut."
„Was ist los?"
„Ofter lachen. Alle trauig heute. Nich mehr trauig sind." Sie sah mich aus ihren kugelrunden Augen lieb an.
„Das wird wieder. Morgen sind wir wieder besser drauf." Das Kleinkind fing wieder an zu versuchen ihre Sachen loszuwerden. Ich half ihr dabei.
Fünfzehn Minuten später saßen wir wieder bei den Anderen. Elaina, die jetzt doch zugab langsam müde zu werden, hatte sich auf meinen Schoß gesetzt. Samuel hatte das Pokerspiel ausgepackt und wir spielten eine Runde. Elaina bestand darauf, mitzuspielen, auch wenn sie nur planlos irgendetwas mit den Karten anstellte, bis sie schließlich einschlief.

Ich wachte auf, als der Uhrzeiger gerade auf 6 Uhr umsprang. Samuel hatte seine Arme um mich und Elaina geschlungen. Sein Kopf lag auf meinem, der wiederum auf seiner Schulter lag. Auf meinen Schoß schlief Elaina genauso wie gestern Abend. Auch die anderen schliefen noch. Joseph hatte sich an Samuel gelehnt. Lorraine hatte sich an ihren Zwilling gekuschelt. Nicholas lehnte an Elizabeth genauso wie Kira. Die anderen hatten wohl woanders geschlafen.
Ich versuchte, wieder einzuschlafen, doch ich konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Immer wieder kamen mir die Tränen hoch. Ich musste irgendetwas tun. Vorsichtig befreite ich mich von Samuel und setzte ihm Elaina auf den Schoß. Danach ging ich ins Bad, wo ich mein morgendliches Programm durchzog. Duschen, Haare kämmen, anziehen.
Ich kam gerade aus dem Bad, als mir Elaina entgegenkam.
„Psst, alle schlafen", machte sie.
„Ich weiß."
„Wohin du gehen?" Meinen normalen Alltag zu Hause genießen und alles so machen wie noch vor eineinhalb Monaten.
„Ich kümmere mich um die Tiere. Willst du mit, Kleines?"
„Bin groß!"
„Hast ja Recht. Komm her, Große." Ich hob die Zweijährige hoch. Ich zog ihr wieder ihre normalen Sachen an, dann schlichen wir nach draußen. Auf dem Sofa schliefen immer noch alle, auch wenn mittlerweile Elizabeth umgekippt war und ihr Kopf jetzt auf Samuels Schoß lag.
Bei den Pferden angekommen, setzte ich Elaina dort wieder ab. Die Zweijährige kroch sofort unter dem Zaun durch, um den Pferden guten Morgen zu sagen. Ich sprang geschickt über das Gatter. Die sieben Tiere kamen sofort auf mich zugelaufen.
„Carolin!" Luna schmiegte ihren Kopf an meine Schulter.
„Hallo, meine Hübsche." Liebevoll strich ich dem Einhorn über das Fell. Die Tiere beruhigten mich, mehr als es jeder andere konnte. Elaina zupfte an meinen Pullover. Ich sah zu ihr runter.
„Pferchen haben Hunger. Elaina hatten Hunger auch." Sie sah mich flehend an.
„Dann wollen wir doch mal erst die Pferde und dann dich versorgen." Elaina klatschte glücklich in die Hände.
Zusammen holten wir Wasser aus dem Pferdeanhänger. Zum Glück gab es da dank Magie eine unerschöpfliche Quelle. Elaina half mir stolz mit einem kleinen Eimer. Auf dem Weg schwappte die Hälfte über und landete auf dem Boden oder auf Elainas Schuhen. Sie störte das wenig.
Als nach dreimal Laufen die Tränke ganz aufgefüllt war, holten wir noch Futter für die Tiere. Elaina summte dabei die ganze Zeit Backe, backe Kuchen. Dabei tänzelte sie um mich herum. Die Pferde stürzten sich sofort auf das frische Heu.
„Jetzt gehen wir frühstücken, Elaina. Aber psst. Alle schlafen noch." Ich legte einen Finger auf den Mund.
„Psst", bestätigte das Mädchen. Wir gingen zurück zu den Wohnwagen.

In der Küche sang Elaina weiter. Stolz brachte sie mir immer wieder ein paar Zutaten für Pfannkuchen. Dass ich ihr unauffällig half, bekam sie nicht mit. Wir hatten gerade den Teig fertig – Elaina war jetzt reif für eine Dusche – als Samuel in den Wohnwagen gestürmt kam. Erleichtert fiel er mir um den Hals, als er mich beim Kochen erwischte.
„Ich dachte, dir wäre sonst was passiert! Du warst einfach verschwunden."
„Ich war wach, also habe ich die Pferde mit Elaina versorgt und dann haben wir Frühstück gemacht." Ich zeigte auf die riesige Schüssel Teig. Samuel wollte seinen Finger in den Teig halten, um zu probieren. Ich schlug sie weg.
„Finger weg von dem Teig!", befahl ich.
„Ich will nur probieren."
„Dann wollen das zwölf Kinder machen, also lass die Finger aus dem Teig raus."
„Carolin und Samuel Ehepaa!", kicherte Elaina. Samuel umarmte mich von hinten.
„Was hat meine wunderbare Ehefrau, denn zum Frühstück gezaubert?"
„Pfannkuchen."
„Lecker." Ich bekam ein Kuss auf die Wange.
Ich hatte gerade den zweiten Pfannkuchen fertig, als die 4P hereinkamen.
„Kaffee", murmelte Prim. Sie griff nach der Kaffeekanne, die Samuel gemacht hatte.
„Prim. Ihr trinkt kein Kaffee. Ihr seid eh immer aufgedreht!", schimpfte der ältere Junge.
„Du hast uns geweckt!", grummelte Paul wütend. Ich sah interessiert zu den 4P.
„Er kam hereingestürmt, weil er dich nicht finden konnte."
„Er hätte mal am Herd gucken sollen", grummelte Patricia. Ich sah zu Samuel.
„Ich habe mir eben Sorgen gemacht – wegen du weißt schon was." Mein Herz zog sich zusammen.
„Pfannkuchen?", fragte ich. Sofort wurden die 4P aufmerksamer. Das magische Wort „Pfannkuchen" wirkte wie immer Wunder. Patrick und Patricia rannten sofort los und holten jede Menge Sachen, wie Erdbeeren, Himbeeren, Sahne und Schokoraspeln. Ich machte noch vier weitere Pfannkuchen. Die anderen ignorierte ich. Einfach weiter aufs Kochen konzentrieren.

Auch vom restlichen Tag bekam ich wenig mit. Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit und nahm sonst kaum etwas wahr. Meine Eltern unterzogen mich einem Training für meine Kräfte. Ich stürzte mich voll und ganz in die Aufgaben, die ich bekam. Ich versuchte, mich willentlich in Tiere zu verwandeln, unsere dicke und vor allem faule Katze Kitty dazu zu bringen Kunststücke zu machen und meine übernatürlichen Sinne zu kontrollieren. Das Ganze mit geringem Erfolg. Kitty war so nett gewesen Männchen zu machen, nachdem ich sie aus Versehen in eine Maus verwandelt hatte und eine halbe Stunde brauchte, um sie zurückzuverwandeln. Ich vermute allerdings, dass die Katze das nur getan hatte, weil sie auf gar keinen Fall wieder eine Maus werden wollte.

Hexagramm - VogelfreiWhere stories live. Discover now