An der Weide angekommen befreiten wir die beiden Einhörner von ihrem Zaumzeug und den Haarbändern, die wir für die Vorstellung in die Mähnen geflochten hatten. Danach striegelten wir noch die beiden Tiere, wobei Elaina unbedingt helfen wollte. Zum Glück waren die Einhörner und Pferde an kleine Kinder gewöhnt, sodass es ihnen nichts ausmachte, als meine Großcousine zwischen ihren Beinen herlief und diese striegelte. Jean half ebenfalls mit, allerdings war sie wirklich hilfreich und stand nicht im Weg.

Als die Pferde fertig versorgt waren, gingen wir vier zurück hinters Zelt. Dort hatte sich schon der Rest meiner Familie schon eingefunden, was mal wieder zum üblichen Chaos geführt hatte. Eigentlich keine Überraschung bei über dreißig Leuten, vor allen wenn zwölf von ihnen elf Jahre alt oder noch jünger waren. Viele von den Jüngeren waren mit Toben beschäftigt, die Erwachsenen standen oder saßen zusammen und redeten über Gott und die Welt.
Der Tisch war schon vollgestellt mit allen möglichen Leckereien. Ich ließ mich auf den freien Stuhl neben meine Mutter fallen. Diese schob mir sofort ein Glas mit Wasser herüber. Dankbar nahm ich es entgegen.
„Kinder, kommt ihr, es gibt Abendessen!", rief meine Mutter den Spielenden zu.
„Endlich!", rief Patrick. Er rannte auf dem Weg zum Tisch fast Bubble um, welche empört mauzte.
„Pass auf mein kleines Bubblechen auf, kleiner Bruder!", rief Samuel dem Jungen zu.

Nach dem Essen wurde ich von meiner Mutter zum Abwaschen abkommandiert. Mit ihr stand ich an einem Spülbecken in einem der Wohnwagen und trocknete das Geschirr ab. Da die Wohnanhänger magisch vergrößert waren, hatten wir genug Platz, damit man sich in ihnen bewegen konnte. Auch ein Tisch passte hier herein, an dem wir im Winter mir allen zusammen Essen konnten. Ich fragte mich, wie Muggel ohne Vergrößerung in ihnen leben wollten. Da ist es doch furchtbar eng drin!
Mum und ich arbeiteten schweigend. Eigentlich nicht ungewöhnlich für uns beide. Gerade abends wenn wir müde waren, schwiegen wir uns oft an, doch jetzt gerade fühlte es sich komisch an. Es war nicht das übliche „zu müde zum Reden"-Schweigen, sondern es war irgendwie anders.
„Du wirst ab September nach Hogwarts gehen", brach Mum das Schweigen. Mir fiel fast der Teller aus der Hand, welchen ich gerade festhielt.
„Ich werde was?", rief ich aufgebracht. Das konnte ja wohl nur ein schlechter Scherz sein.
„Du gehst nach Hogwarts."
„Nein! Werde ich nicht! Warum auch? In zwei Jahren bin ich eh fertig und ihr könnt mich weiter hier unterrichten. Hat mit Samuel doch auch geklappt!" Ich widersprach meiner Mutter nicht oft, was daran lag, dass es dafür meistens keinen Grund gab, aber in diesem Fall würde ich nicht einfach tun, was meine Eltern wollten.
„Du wirst gehen. Ende der Diskussion."
„Werde ich nicht!" Ich stellte den Teller ins Regal, wobei es bedrohlich klirrte.
„Du bist schon angemeldet."
„Ihr habt das ohne mich beschlossen?" Ich sah ungläubig mit verschränkten Armen zu meiner Mutter herüber. Seit wann beschlossen meine Eltern etwas, ohne dass ich gefragt wurde? Normalerweise bezogen sie mich in ihre Entscheidungen mit ein. Gerade wenn es um mich und mein Leben ging, taten sie das immer. Doch die größte Entscheidung hatten sie einfach ganz ohne mich getroffen.
„Ja, haben wir."
„Also schiebt ihr mich einfach in ein Internat ab? Wie stellt ihr euch das denn vor mit dem Theaterstück und den ganzen anderen Sachen?"
„Wir werden nicht mehr Romeo und Julia aufführen und die Kleinen sind alt genug etwas mehr zu helfen." Also wurde ich mal eben ersetzt? Wütend schleuderte ich das Trockentuch in eine Ecke. Wenn ich so einfach zu ersetzen war, sollte doch bitte jemand anderes abtrocknen.
„Carolin, was soll das?"
„Wenn ihr mich nicht mehr braucht, kann ich auch gehen!"

Ich rannte aus dem Wohnwagen und knallte hinter mir die Tür zu. Ein paar aus der Familie, die noch immer hinter dem Zelt zusammensaßen, sahen mich verwundert an. Normalerweise gehörte ich nicht zu den Leuten, die hier irgendwelche Türen knallte. Höchstens mal aus Versehen, wenn ich in Eile war oder weil ich vergessen hatte, dass noch ein Fenster auf war und Durchzug entstanden war.
Lange blieb der verwunderte Gesichtsausdruck allerdings nicht auf ihren Gesichtern. Sie schienen alle schnell zu verstehen, was der Grund für die zugeschlagene Tür war. Jeder von ihnen hatte es gewusst und wahrscheinlich bei der Entscheidung mitgewirkt. Und nach dem schuldbewussten Gesichtsausdruck, der sich an dem Tisch ausgebreitet hatte, waren sie am Ende alle für meinen Hogwartsaufenthalt.

Wütend ging ich zur Koppel, wo unsere Tiere standen. Dort setzte ich mich auf den Zaun und sah ihnen beim Grasen zu. Ich wollte hier nicht weg und in ein blödes Internat. Ich wollte nicht von meiner Familie weg oder sesshaft werden. Ich liebte das Reisen, die Musicalvorstellungen, das Reiten und einfach meine Freiheit, die ich hier hatte. Ich wollte nichts davon aufgeben. In einem Internat gab es furchtbar viele Regeln. Man durfte nicht einfach für einen Tag in die Berge zum Klettern oder so was.
„Sie haben es dir gesagt, richtig?" Samuel zog sich neben mich auf den Zaun.
„Du wusstest davon?", fragte ich sauer. Mein Großcousin nickte traurig und ziemlich schuldbewusst.
„Ich habe versucht, dass sie mich mitlassen, aber sie haben nein gesagt."
„Du hast deine UTZ-Prüfung ja auch schon bestanden." Der ältere Junge grinste leicht.
„Es hat halt nicht alles Vorteile. Aber sieh es mal so, du bist allen da ein halbes Jahr voraus, kannst mit einem Einhorn angeben und einem superheißen Großcousin." Ich boxte Samuel gegen die Schulter.
„Blödmann." Meine Wut verebbte wieder etwas.
„Außerdem wollen sie dich nur in Sicherheit wissen." Ich sah ihn fragend an.
„Du weißt doch, dass deine Großmutter krank ist."
„Ja, klar, weiß ich das."
„Sie sind sich nicht sicher, dass sie wieder ganz gesund wird. Der Heiler, wo sie vor ein paar Tagen war, war sich auch nicht sicher. Er hielt es sogar für unwahrscheinlich." Ich musste schwer schlucken. Die Krankheit meiner Großmutter war mir natürlich nicht entgangen. Mir war auch klar gewesen, dass es ernst war. Die magischen Kräfte meiner Großmutter hatten angefangen, sich langsam auf mich zu übertragen. Doch ich war immer fest davon ausgegangen, sie würde wieder gesund werden. Dass die Kräfte bald wieder ganz meiner Großmutter gehören würden. Doch anscheinend würde ich sie viel schneller als mir lieb war ganz gehören.

„Nur nicht weinen. Wimperntusche bekommt man so schlecht aus dem Hemd. Sonst nimmt deine Großmutter mich mit ins Grab", befahl mir Samuel, welcher mich vorsichtig in seine Arme zog. Ich musste gegen meinen Willen lachen. Ich sollte eigentlich nicht darüber lachen, dass sie so krank war, aber dass Samuel Angst vor ihr war einfach so furchtbar lustig.
„Du bist manchmal so ein Blödmann."
„Immer wenn du einen Blödmann brauchst, der dich wieder aufmuntert."
„Vielleicht brauche ich manchmal einen ein bisschen."
„Oder auch ein bisschen mehr."
„Halt die Klappe, Samuel."
„Ich habe dich lieb, Carolin."
„Ich dich auch, Samuel."
Mein Großcousin ließ mich wieder los. Meine Wut war jetzt vollkommen verflogen. Meine Eltern hatten es nur gut gemeint und ich hatte mich so furchtbar aufgeregt. Ich sollte gleich nochmal zu ihnen gehen, um mich mit ihnen in Ruhe auszusprechen.

Hexagramm - VogelfreiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt