28- Wieder

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Selina schloss die Tür wieder, und atmete tief durch.

Einmal, zweimal dreimal.

Ihr Vater war so still gewesen.

Sie öffnete sie wieder und ging vorsichtig näher. Das Zimmer war verwüstet, die Decken auf dem Bett durchwühlt, überall lagen benutzte Taschentücher, leere Flaschen, Zigarettenstummel und Papierfetzen.

Mitten im Raum lag ein Stuhl auf dem Boden, umgestürzt.

Ihre Augen fixierten sich auf diesen Stuhl, nur auf diesen Stuhl.

Nicht auf ihren Vater, der darüber hing und so still war mit dem Seil um den Hals.

Er lebte nicht mehr, das wusste sie auch ohne seinen Puls zu nehmen.

"Dad.", flüsterte sie in das leere Zimmer.

Auf dem Bett lag ein Zettel und eine Plastiktüte, in der ein Handy lag. Es war weiß mit einer durchsichtigen Hülle, in der zwei Bilder lagen.

Es war das Handy ihres Bruders, und auf dem Foto hatte er seinen Arm um sie geschlungen und grinste in die Kamera, auf dem zweiten küsste Isaac, sein Ex, gerade seine Nase.

Selinas Atem beschleunigte sich.

"Fuck. Oh Gott. OhGottOhGottOhGott.", murmelte sie und raufte sich die Haare.

So schnell wie sie konnte packte sie den Zettel und die Tüte und rannte aus dem Zimmer. Ohne zu stoppen rannte sie gegen die Küchentheke und rang nach Luft.

Ihre linke Hand tasteten nach dem Telefon, die rechte klammerte sich verzweifelt an das letzte von ihrem Vater und ihrem Bruder, was sie jemals bekommen würde.

Ein letztes Geschenk zu Geburtstag, zu Weihnachten. Ein letzter Abschied.

Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, fremd, als sie die Tasten drückte.

Eine Nummer, die man ihr schon so früh beigebracht hatte in der Hoffnung, dass sie sie niemals benutzen würde.

Monoton sagte sie der Frau vom Krankenhaus ihre Adresse, dass ihr Vater tot in seinem Zimmer hing, dass es Selbstmord war, dass sie alleine Zuhause war.

Sie legte auf. Ihr ganzer Körper zitterte, doch sie weinte nicht. Es fühlte sich nicht real an, nichts von alledem.

Eher wie ein Albtraum, aus dem sie bald aufwachen würde.

Vorsichtig entfaltete sie den Zettel, und las ihn.

Immer und immer wieder.

Sie las sie immer noch, als die Sanitäter klingelten, doch ihre Beine bewegten sich nicht.

Die Tür sprang auf, als die Rettungskräfte sie eintraten.

Selina lehnte an der Theke, den Zettel in der einen, das Handy in der anderen.

Taub beantwortete sie die Fragen der Männer, deutete auf die Tür ihres Vaters, ließ sich aus der Wohnung führen.

Vor ihrer Haustür sank sie auf die Knie, zitternd, ihre Brust sich rasend heben und senken.

Der Zettel zerknitterte weiter in ihrer geschlossenen Faust.

Die letzten Worte ihres Vaters rangen weiter in ihrem Kopf wie eine altbekannte Melodie.

Nur zwei Worte. Zwei klitzekleine Worte.

Verzeih mir.

We are all perfect, we are all going to dieWhere stories live. Discover now