Kapitel 85 - Offene Karten

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Eine Weile saß ich still neben Josh und sagte gar nichts. In mir herrschte ein Kampf. Eine Seite in mir wollte über meine Vergangenheit sprechen. Meine Seele schrie danach, diese unheimliche Last loszuwerden. Die andere Seite sträubte sich dagegen. Sie wollte nichts von sich preisgeben und für immer verschlossen bleiben.

Aber Josh hatte Recht. Ich musste mit jemanden darüber reden. Er war der Einzige außer Mom, der von meinen Narben wusste. Er hatte sie gesehen. Es fehlte nicht mehr viel und er wüsste die ganze Wahrheit. Es war ein kleines Puzzleteil, aber leider auch das, das alle zusammenhielt. Wenn ich jetzt darüber sprach, wüsste er alles.

Bring es endlich hinter dich, dachte etwas in mir. Ich atmete tief ein und aus.

Josh drängte mich nicht dazu, ihm alles zu erzählen. Still saß er neben mir und wartete ab, bis ich eine Entscheidung getroffen hatte. Vielleicht war es das, was mich letztendlich dazu brachte, das Schweigen zu brechen.

»Es ist mittlerweile sieben Jahre her...«, begann ich zögernd, »...ich war gerade mal zehn Jahre alt.«

Josh sagte nichts.

Unsicher fuhr ich fort. »Ich kam gerade wieder von der Schule nach Hause.... Als ich die Tür öffnete, kamen mir direkt die Schreie meiner Eltern entgegen. Aber das war ich gewohnt... Mein Vater hatte andauernd diese Wutanfälle und schrie meine Mutter mal wieder ohne Grund an.«

Ich schluckte schwer. Ich konnte die Geschichte auch abbrechen, aber ich wollte weitersprechen. Ich wollte, dass alles raus war. Dass ich keine Steine mehr hinter mir herziehen musste.

Ich holte tief Luft. »An dem Tag war es besonders schlimm... Das Gebrüll meines Vaters war so laut, dass ich unglaubliche Angst bekam und mich zitternd hinter dem Sofa versteckte. Mein Vater hatte damals kein Problem gehabt, mich zu... schlagen. Bei dem kleinsten Fehler...«, ich stockte. Es war wirklich genauso schwer, wie ich es mir all die Jahre vorgestellt hatte.

Plötzlich legte Josh seine Hand auf mein Bein. »Du musst nicht weitersprechen, wenn du nicht willst...«, flüsterte er in die Dunkelheit.

Ich musste nicht weitersprechen. Ich starrte auf seine Hand. Er hatte mir das Leben gerettet. Zwei Mal. Es war in Ordnung weiterzusprechen. Ich vertraute ihm.

»Bei dem kleinsten Fehler... hat er mich mit seinem Ledergürtel geschlagen. Auf den Rücken. Selbst, als ich in Tränen ausgebrochenen bin, hat er weitergemacht...«, schmerzhaft drückte ich Joshs Hand. Die Erinnerungen waren grausam. Jedes Mal kam ich mit Platzwunden davon. Jedes Mal entstanden grässliche Narben.

»Zu dem Zeitpunkt dachte ich immer, schlimmer geht es nicht...«, meine Stimme bebte, »Aber an dem Tag bewies er mir das Gegenteil. Das Geschrei meiner Eltern wurde lauter. Ich wollte, dass es aufhörte und rannte in den Flur. Sie standen oben am Geländer. Meine Mutter wollte es sich nicht länger gefallen lassen und schlug zurück. Aber das war ein Fehler. Mein Vater verlor die Fassung. Er-« Meine Stimme versagte.

Ein stechender Schmerz machte sich in meiner Brust breit. Es tat so weh, aber ich wollte nicht aufhören zu sprechen. Wenn ich jetzt aufhörte, könnte ich es niemals jemanden erzählen.

»E-er hat sie gestoßen!«, ich zwang mich Josh anzusehen, »Sie ist rücklings die Treppe heruntergestürzt... Ihre Schreie sind noch heute in meinen Kopf. Mit eigenen Augen musste ich dabei zusehen, wie meine eigene Mutter vor meinen Füßen auf den Boden krachte und sich nicht mehr regte... Plötzlich war da Blut. So viel Blut!«

Ich atmete schwer. Ich hatte in meinem Leben noch nicht so viel Blut gesehen wie an dem Tag.

»Als mein Vater merkte, dass sie sich nicht mehr bewegte, stürmte er die Treppen herunter. Erst dachte ich, dass er ihr helfen wollte...«, verbittert schüttelte ich den Kopf, »...aber er lief weg. Er rannte zur Tür und lief einfach davon.«

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