Kapitel 6 - Hallo, Onkel Harry

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Mein Leben war innerhalb von 24 Stunden zu Schutt und Asche zerfallen. Ich hatte gar nichts mehr. Für Mom war das alles am schlimmsten. Denn für sie hatte der Albtraum gerade erst begonnen. Schließlich musste sie in Untersuchungshaft . Officer Brown war völlig davon überzeugt, dass sie die Täterin war.

Abends sollte sie eigentlich aus dem Krankenhaus entlassen werden, stattdessen führte der Weg direkt in ein Polizeiauto, das sie in die Strafanstalt am Stadtrand transportierte.

Weil es aber bis auf den Diamanten keine weiteren Beweise gab, flimmerte noch ein Hauch Hoffnung auf. Es war allein meine Aufgabe zu beweisen, dass Mom nicht die Täterin war. Wie ich das anstellen sollte, war mir jedoch ein Rätsel.

Angespannt sah ich zu Max. Er wusste nicht einmal richtig, was los war. Aber vielleicht war das ja besser so?

»Wohin fahren wir?«, gähnte er und zeigte aus dem Fenster. Die Nacht nahte. Dunkle Schatten von Häusern strichen im Sekundentakt an uns vorbei. Wolken aus Nebel hatten sich über die Stadt gelegt. Mal wieder saß ich in einem Polizeiauto. In dem letzten Stunden war das wohl mein neues zu Hause geworden.

»Zu Onkel Harry...«, seufzte ich traurig. Da Familie Summers uns nicht mehr bei sich haben wollte, mussten wir zu ihm. Andere Verwandte hatten wir nicht. Naja, da gab es auch noch Dad, aber das war ausgeschlossen. Diesen Mann konnte und wollte ich nie wieder in meinem Leben sehen. Er hatte Mom und mir einfach viel zu großes Leid angetan.

Also blieb nur noch Onkel Harry übrig. Ich sah ihn immer nur selten, aber die Tatsache, dass Mom und er sich nicht sonderlich gut verstanden und kein einziges Wort mehr miteinander wechselten, zeigte genug. Ich fragte mich, was zwischen den beiden vorgefallen war, dass sie sich so dermaßen auseinandergelebt hatten.

Ich hoffte inständig, dass Onkel Harry uns trotz dem schlechten Verhältnis freundlich willkommen heißen würde. Sonst hätte ich nur noch mehr Ärger am Hals. Eine andere Wahl hatten wir nicht. Er musste uns solange aufnehmen, bis ich die Unschuld von Mom bewiesen hätte, was sicherlich keine leichte Aufgabe werden würde.

Der Polizist fuhr eine lange Straße entlang und kam letztendlich zum Stehen. Ich bedankte mich und Max und ich stiegen aus. Die Gegend, in der wir abgesetzt wurden, gefiel mir aber ganz und gar nicht .

Onkel Harrys Haus war größer, als ich angekommen hatte. Die Fassaden waren heruntergekommen, Efeu kletterte an den Wänden hinauf, einzelne Dachziegel fehlten. Es war von kahlen Bäumen umrahmt, dessen dürre Äste im Wind hin und her schaukelten. Ein paar Meter weiter begann der Wald.

Ich sah mich nach weiteren Häusern um. Aber die Riverstreet war nicht gerade die bewohnteste Straße. Man schien hier wohl besonders gerne auf Distanz zu gehen. Die wenigen Häuser standen eher einzeln und abgesondert. Hier sah es ganz anders aus als in dem Viertel, in dem wir bis gestern gelebt hatten. Waren wir überhaupt noch in Brulestown?

Zögernd nahm ich Max an der Hand und setzte mich in Bewegung. »Ich will da nicht rein!«, jammerte er plötzlich und wurde langsamer. Seine blauen Äuglein waren geweitet und zuckten von einem Haus zum anderen. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

»Das Haus ist von innen ganz schön! Du wirst es lieben!«, versuchte ich Max weiszumachen. Aber er wollte nicht auf mich hören und wandte sich aus meinem Griff.

Ehe er weglaufen konnte, griff ich wieder nach seiner Hand. Dann kniete ich mich zu ihm herunter und legte meine Hände auf seine Schultern. »Max...«, murmelte ich und bemühte sich eines einfühlsamen Tons. Es zerbrach mir das Herz ihn so zu sehen, aber leider hatten wir keine andere Wahl. Sanft legte ich meine Hand auf seine Wange. »Onkel Harry ist ein lieber Mensch. Du wirst ihn bestimmt mögen!«, besänftigte ich ihn und hoffte, dass sich meine Worte bewahrheiten würden.

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