Kapitel 83 - Die bittere Wahrheit

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Spätestens jetzt wusste auch Josh, woher die Narben auf meinen Rücken stammten. Mein ganzes Leben in ein paar kleinen Sätzen mit gewaltiger Wirkung niedergeschrieben.

Ein Tränenschleier legte sich über meine Augen. Ich biss mir auf die Lippe. Mom sagte die Wahrheit, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich konnte es nicht wahrhaben. Es ging einfach nicht.

Verbittert musste ich feststellen, dass es stimmte. Die Wahrheit war wirklich hässlicher als jede Lüge.

Ihr Geständnis war die bittere Realität. Meine Mutter war keine Verbrecherin. Trotzdem war sie schon am Tag vor dem Mord nervös gewesen. Weil sie mich eiskalt belogen hatte. »Ich muss noch etwas im Büro erledigen«, waren ihre Worte damals. Ich stellte mir vor, wie sie stattdessen an einen anderen Ort fuhr. Heimlich. Und sich dann mit ihm traf. Wie sie eine Beziehung miteinander führten, von der ich nichts wissen durfte. Sich berührten. Sich küssten.

Die Tränen brannten auf meinem Gesicht. Bebend zog ich mir die Decke über den Kopf. Warum? Warum? Warum?

Die Gedanken und Vorstellungen drehten sich mehrmals in meinem Kopf und schienen meinen Schädel zu zerdrücken. Mit einer Wucht, die mich verrückt machte.

Plötzlich war da dieser Schrei, der alles zur Ruhe brachte. Mein eigener verzweifelter Schrei. Auf einmal war es wieder still. So still, dass ich hören konnte, wie mein gebrochenes Herz in meiner Brust pochte.

Auch am nächsten Tag ließ mich Onkel Harry ausschlafen und befreite mich von der Schule. Ich hatte keine Nerven mehr, um mich an diesem Ort blicken zu lassen. Ein falsches Wort und ich würde direkt zusammenbrechen.

Plötzlich war ich wieder so leicht verwundbar. Jeder konnte mich ohne Probleme zu Boden bringen. Erst jetzt merkte ich, wie schwach und zerbrechlich ich eigentlich war. Die starke Allyson existierte nicht mehr. Mein einziger Schutz war dahingeschmolzen.

Ich spürte, wie die Tränen wieder Überhand nehmen wollten. Stumm ließ ich es zu. Es hatte keinen Sinn mehr, es zu unterdrücken. Die Schmerzen waren immer da.

Eine Träne. Zwei. Drei. Mein Gesicht war wieder nass.

Zitternd vergrub ich es in meinem Kopfkissen.

Es war zu viel. Zu viel auf einmal. Das Feuer. Moms Verhaftung. Der Verfolger. Collin. Eric. Max Entführung. Das Geständnis. Viel zu viel.

In dem ganzen Chaos hatte ich keinen Moment Ruhe. Ich konnte keine Sekunden durchatmen. Ich war emotional am Ende.

Während ich da vor mich hin weinte, lachte er mich dort draußen aus. Zu dem Zeitpunkt wusste ich zwar noch nicht, wer er war, aber er lachte. Lachte und stieg in seinen schwarzen Van. Nicht mehr lange und er könnte alle seine Rachegelüste ausleben. Nicht mehr lange und er würde vor mir stehen. Nicht mehr lange und er würde mich anlächeln. Mich beruhigen. Mir versprechen, dass alles wieder gut werden würde. Und dann. Dann würde er sein wahres Gesicht zeigen. Es würde sich herausstellen, dass er in Wahrheit das Monster war. Dass er mir die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hatte. Dass ich auf seine Lügen hereingefallen war.

* * *

Auch den nächsten Tag lag ich in meinem Bett und stand nur auf um ins Bad zu gehen. Ich aß kaum. Ich sprach kein Wort. Ich wollte niemanden sehen. Mein Onkel musste selbst Jayden an der Tür abweisen.

Abends hatte es aber doch jemand in mein Zimmer geschafft.

Meggie setzte sich auf die Bettkante und legte mein Handy neben mir auf dem Nachttisch ab. »Chris hat es repariert...«, seufzte sie, »...er meinte, das wäre der Dank dafür, dass du sein Geheimnis nicht weitererzählt hast? Keine Ahnung, was er damit meint.« Sie runzelte die Stirn.

Chris, der Streber, der eigentlich ein Doppelleben als edler Ritter auf den angesagten Halloweenpartys hatte. Ich nickte kaum merklich und starrte auf das Handy, welches wie neu aussah. Als hätte ich es niemals fallen gelassen. Am liebsten hätte ich es jedoch direkt wieder gegen die Wand geworfen. Ich wollte mit niemanden sprechen. Keine Nachrichten. Keine Anrufe. Nichts.

Meggie musterte mich. »Allyson, wenn du weiter so traurig guckst, muss ich auch noch anfangen zu weinen«, gab sie niedergeschlagen zu, »Was kann ich tun, damit es dir besser geht?«

Ich sah sie einen Moment an. Dann wandte ich dem Blick ab. »Gar nichts...«, flüsterte ich.

Meggie stieß einen Seufzer aus und erhob sich von meinem Bett. Sie ging zum Fenster und starrte eine Weile in die Dunkelheit. »Jayden ist übrigens krank vor Sorge...«, fing sie an zu erzählen, »Er denkt immer noch, dass dieser Josh hinter den Angriffen steckt! Er ist so dermaßen mit diesem Gedanken besessen, dass es einen schon verrückt macht.«

Sie sah mich wieder an. »Ich glaube er ist nur eifersüchtig... aber ich für meinen Teil, weiß überhaupt nicht mehr, woran ich glauben soll.«

Ich schloss die Augen. »Ich auch nicht...«, gab ich offen zu.

Meggie setzte sich wieder neben mich und legte ihre Hand auf meinen Rücken. »Alles wird wieder gut, das verspreche ich dir«, redete sie mir zu.

Die Zweifel in ihrer Stimme waren kaum zu überhören. Aber das war schon in Ordnung. Ich glaubte nämlich nicht einmal selbst mehr dran, dass das alles irgendwann ein Ende fand. Und wenn es doch ein Ende nahm, dann wäre es sicherlich kein Happy End.

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