1. Kapitel

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Kyla

Das Klingeln des Weckers weckte mich. Müde schob ich mich aus dem Bett, sah mich um. Alles war normal. Es wunderte mich, dass alles normal war. Es musste doch etwas anders sein, wo ich heute schließlich in eine Pflegefamilie kam.
Abfällig verzog ich das Gesicht, während ich in das kleine Gemeinschaftsbad ging. Diese Menschen wollten nur keine schnatternde Gans haben, sonst hätten sie mich nicht Adoptieren wollen. Während ich duschte horchte ich in mich hinein.
War ich aufgeregt? Fühlte ich mich nicht mehr so leer? Nein.Es war nichts anders.
Mit müden Schritten verlies ich die Dusche und zog mich an. Der Großteil meiner Anziehsachen war in einem kleinen Koffer verstaut. Lediglich ein dunkelblaues Top und eine weiße Hose lagen noch im Schrank, die ich mir jetzt anzog.
Dann föhnte ich meine Haare und putzte mir die Zähne. Als nächstes schnappte ich mir mein Handy und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Während ich die Treppe hinunterging um noch etwas zu essen scrollte ich durch meine Playlist.
An der Tür zum Speisesaal entschied ich mich für ein Lied.
Ich ignorierte die anderen, die wie so oft begannen zu tuscheln. Heute redeten sie noch aufgeregter wie sonst. Ich verzog abermals das Gesicht, während ich mich voll auf die Musik konzentrierte.

So if I stand infront of a Speeding Car
Tell me who you are, what you like...

Kam es aus meinen Kopfhörern, während ich mir einen Apfel schnappte und mich an einen leeren Tisch setzte. Es war schon seltsam, hier, im Waisenhaus für schwere Fälle, nicht mehr zu leben. Kopfschüttelnd konzentrierte ich mich wieder auf die Songtexte. Das Lied hatte gewechselt.

I'm only one call away
I'll be there to save the day
Superman got nothing on me
I'm only one call away

Ich wünschte mir, es gäbe jemanden, der den Superman für mich spielte. So wie Dad früher. Er war immer für mich da gewesen.

Doch jetzt nicht mehr. Wegen dir.

Da war sie wieder. Die Stimme. Ich konnte nichts gegen sie machen. Sie war immer da, legte einen Schatten über meine Sehnsüchte und erinnerte mich daran, dass diese Welt grausam war.
Müde schüttelte ich den Kopf, was mir ein paar schräge Blicke von den neuen einbrachte. Ich führte meist Selbstgespräche, die oft unbeobachtet blieben. Was sollte ich sonst machen?
Ich verstand den Sinn nicht, mit anderen zu reden. Was nützte es? Es würde nur zu ärger und weiteren unerwünschten Problemen führen.
Schnell aß ich meinen Apfel auf und wollte mich gerade auf den Weg machen, als sich meine Betreuerin und Privatlehrerin Leyla Armstrong an den Tischen vorbei auf mich zu bewegte.
Ich ließ mich wieder auf meinen Platz fallen, als sie mir winkte und ein Zeichen gab, zu warten. Miss Armstrong war die einzige Person, der ich in den letzten Jahren Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie hatte mich mit ihrer ruhigen und zugleich fröhlichen Art fasziniert.

<Kyla, schön dich mal beim Essen zu erwischen.>

Sie grinste mich zufrieden an. Dann wurde sie ernst.

<Ich soll dir von Mrs. Murrer noch ein paar Informationen zu dem weiteren Verlauf geben. Deine Adoptiveltern und deinen Adoptivbruder hat man dir ja schon vorgestellt.>

Ich nickte kaum merklich. Die Familie Ghost schien ganz in Ordnung zu sein. Der Junge war in meinem Alter, also 16, und hieß Jonathan. Er sah ganz in Ordnung aus, mit braunen Haaren und ebenso braunen Augen. Ich nahm an das die meisten Mädchen ihn süß fänden, doch ich hatte kein interesse an Jungs.
Seine Eltern hatten sich als Olivia und Dave vorgestellt. Sie waren recht normal, sie mit derselben Haar-und Augenfarbe wie ihr Sohn, er mit blonden Haaren und Wasserblauen Augen.
Sie schienen ganz in Ordnung gewesen zu sein, als ich kennengelernt hatte. Miss Armstrong schien mit meiner Reaktion zufrieden, da sie mit einem kleinen, traurigen Lächeln fortfuhr:

< Mr. und Mrs. Ghost kommen in etwa einer Stunde. Ab Montag gehst du mit deinem Adoptivbruder in die Schule. Wir werden uns höchstwahrscheinlich einmal im Monat zu den normalen Sitzungen sehen.>

Sie lächelte nochmals traurig, während ich sie beinahe entgeistert ansah. Beinah. Ich würde auf eine normale Schule gehen? Wollten die mich verarschen?

<Noch zur Schule: Es werden nur deine schriftlichen Arbeiten gewertet, mach dir darum mal keine Sorgen. Mrs. Murrer erwartet dich um 9:45 Uhr mit gepacktem Koffer in ihrem Büro. Mach es gut, Kyla.>

Kurz sah ich ihr nach, bevor ich mich selbst auf den Weg in mein Quartier machte. Dort sah ich mich nochmal um und schaute in allen Schubladen nach, ob ich auch alles hatte. Gerade sah ich in eine der unteren Schubladen meines Nachtschrank, als mir etwas unter dem Bett auffiel.
Zögernd streckte ich meine Hand danach aus und zog das rechteckige Stück Papier zu mir. Schon ein kurzer Blick darauf reichte aus, um mich kurz erstarren zu lassen.
Hastig stand ich auf und blickte mich suchend im Zimmer um, bis ich den Papierkorb fand. Mit schnellen, festen Schritten lief ich auf diesen zu und zerriss das Foto in meiner Hand. Dann atmete ich die Luft, die ich vor Trauer und Schmerz angehalten hatte, aus.

Das Schweigen der Gebrochenen *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt