5. In Gedanken nur bei Harry

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Ich atmete tief durch und versuchte den Sauerstoffmangel auszugleichen, der in meinem Körper entstanden war.

Was war das denn? Mein ganzer Körper zitterte, doch mir war heiß.

Harry hatte mich, einfach so, da stehen lassen; mit weichen Knien und einem Kloß im Hals. Und ohne, dass ich auch nur noch ein einziges Wort aus mir heraus gebracht hatte. Mein Herz pochte immer noch unermesslich, als ich ihm hinterher schaute. Aber er drehte sich nicht wieder um.

Mit flattrigen Händen schob ich die Karte durch das Lesegerät an der Türe und versuchte, innen angekommen, erst einmal tief durchzuatmen. Ich war endlos glücklich und verwirrt zugleich, und ich spürte deutlich einen ganzen Schwarm voller Schmetterlinge in meinem Bauch.

»...schönen und entspannten Nachmittag.« ‚Der Kerl macht echt grottenschlechte Witze.‛

Mir war aber ganz und gar nicht zum Lachen zu Mute. Wie gerne, hätte ich ihn eben weiter geküsst. Ich befand mich jetzt schon auf dem besten Wege mich in Harry zu verlieben. Wie war das möglich? Was... verdammt, war mit mir los? Ich hatte dafür einfach keine Erklärung. Nicht einmal ansatzweise. Doch für ihn war das alles sicherlich nur ein Spiel, oder eine gemeine Aufreißermasche, mit der er mich gefügig machen wollte. Scheinbar funktionierte es prächtig, das konnte ich nicht bestreiten. Er kam seinem Ziel immer näher, und ich war den Tränen nahe, als ich weiter darüber nachdachte. Voller Ungewissheit, was er für Absichten hatte, musste ich mich jetzt auf das verfluchte Meeting vorbereiten. Was, wenn ich nur ein paar Minuten länger Zeit gehabt hätte?

Kopflos stellte ich noch einige Geschäftsunterlagen zusammen und versuchte die qualvollen Gedanken an Harry zu verdrängen. Erfolglos allerdings.

Schnell zog ich mir noch etwas Seriöseres an. Einen Blazer in einem dunkleren graubraun mit farblich passender Hose und dazu und eine schlichte, weiße Bluse. Passend zu dem spießigen Kundengespräch, bei dem Lucas und ich heute wieder antanzen mussten. Dann schnappte ich mir die überfüllte Dokumentenmappe und meinen Laptop, und machte mich auf den Weg.

Noch vor meinem Chef, fand ich mich in der Hotellobby ein. Gemeinsam fuhren wir dann aber wenige Minuten später zu dem Termin in die belebte Innenstadt von Berlin. Keine Zeit das heitere Treiben der Metropole zu beobachten, stolperten wir in einen riesigen Firmenkomplex aus altem Gemäuer mit vielen, aber kleinen Fenstern, die zwischen etlichen Efeuranken zu erkennen waren.

Von innen sah das Gebäude nicht halb so alt aus wie von außen. Während meiner Präsentation, in einem der zahlreichen Konferenzräumen, konnte ich mich nur schwer konzentrieren, meisterte sie dennoch ohne Komplikationen, und ich war fast stolz auf mich, wenn ich bedenke wo meine Gedanken die meiste Zeit waren. In den Pausen dachte ich natürlich wieder stärker an Harry und an den Kuss, und fing an zu träumen. Eigentlich war ich nicht diejenige, die ständig in irgendwelchen Tagträumen versank, aber Harry brachte mich schon mehrmals dazu.

»Angelina?«, hörte ich gedämpft meinen Namen sagen. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte mein Chef besorgt. Er kannte mich einfach zu gut.

Gleich zu Anfang unserer Zusammenarbeit hatte er mir das "Du" angeboten, und unser Verhältnis war inzwischen voller Vertrauen und auf einer freundschaftlichen Ebene. Er war knappe zehn Jahre älter als ich, aber wir bildeten ein sehr gutes Team. Auch privat trafen wir uns oft; meist zum Sport.

»Geht's dir nicht gut. Wirst du krank?«

»Nein geht schon, alles ok«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

»Bist du dir sicher?«

»Ja wirklich... Alles ok«, nickte ich eilig.

»Ok gut, dann lass uns wieder rein gehen, wir werden schon erwartet.«

Lucas war schon genau so genervt wie ich, da wir hier irgendwie alles bis ins kleinste Detail, mindestens dreimal durchkauen mussten, bis sich unsere zwei Gesprächspartner dann wieder unsicher wurden und alles neu überdachten. Es gab noch lange Gespräche, bis wir uns mit ihnen über so manche Umsetzungen, wenigstens halbwegs einig waren. Aber für einige Zeit schaffte ich es sogar, nicht an Harry zu denken. Und zum Abschluss des Tages, stand nur noch das Geschäftsessen an.

»Das lief ja gar nicht mal so schlecht heute, was sagst du?«, fragte mich Lucas.

Er hatte Recht. Wir waren unserem Ziel heute schon einiges näher gekommen.

Ziel... Was war Harrys Ziel?

»Mm-hmm?« brummte ich in geistiger Abwesenheit vor mich hin.

»Angelina, wo bist du heute bloß mit deinen Gedanken? Wirklich alles klar bei dir?«

»Ja, glaub schon«, sagte ich teilnahmslos.

»Ok... Weißt du was? Wir gehen jetzt alle zusammen noch schnell Essen, und dann machst du dich aus dem Staub. Ich werde unseren lieben Kunden hier, einen Männerabend vorschlagen. Vielleicht kommen die beiden dann ein wenig mehr aus sich heraus, was gut fürs Geschäft wäre, und du kannst früher gehen und dich ausruhen. Leg dich lieber ins Bett. Nicht, dass du mir noch krank wirst.«

Krank, Bett. Wenn er wüsste...

»Meinst du das wäre ok?«

»Klar, mach dir keinen Kopf.«

»Ok, vielleicht ist das wirklich besser so. Aber morgen bin ich wieder fit. Versprochen.«

Eigentlich log ich Lucas nie an, aber was hätte ich ihm denn sagen sollen? Ich war heilfroh, dass ich nicht bis spät in die Nacht einen auf fröhlich machen musste, obwohl es mich vielleicht abgelenkt hätte, denn meine Gedanken waren in jeder freien Minute bei Harry. In jeder Sekunde sogar. Ich fragte mich mehrfach, was er wohl gerade machte, und wie es ihm ging. War sein Tag stressig? Und ich hätte zu gerne gewusst, ob er vielleicht auch ab und zu an mich dachte. Aber wahrscheinlich war das nicht der Fall. Wir würden morgen gemeinsam Essen gehen, vielleicht zu irgendeiner Burgerkette. Wohin sollte er mich schon groß einladen? Er hatte mir heute morgen selbst gesagt, dass er sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte. Aber es war mir egal, Hauptsache ich konnte Zeit mit ihm verbringen. Wollte er das auch? Zeit mit mir verbringen? Oder war das nur ein notwendiges Übel, um sein schlechtes Gewissen mir gegenüber zu beseitigen. Langeweile? Ich vergaß fast, wie schön es heute morgen war. Doch nicht nur für mich, oder? Ich machte mir einfach zu viele Gedanken. Sie quälten mich, und waren so schön zugleich.

~

Direkt nach dem halbwegs lockeren Geschäftsessen in einem schicken Restaurant, machte ich mich abends tatsächlich auf den Weg ins Hotel. Da Lucas sicherlich noch etwas trinken würde, nahm ich seinen Firmenwagen.

Die Fahrt über, war ich wie in Trance, und ich konnte mich nicht mal mehr richtig daran erinnern, wie ich überhaupt in mein Hotelzimmer gekommen war. Total in Gedanken an Harry und den Kuss, stand ich minutenlang in der Nische, vor meiner kleinen Garderobe, als ich unerwartet ein Rascheln an der Türe vernahm.

Gespannt ließ ich meinen Blick über die Türe wandern, und hielt inne, als ich einen weißen Zettel unter der Türe hindurch blitzen sah. ‚Wer sollte mir hier eine Nachricht schreiben?‛, fragte ich mich. Mein Chef war noch mit den Geschäftskunden unterwegs, und das Hotelpersonal würde mir - ohne Zweifel - keine Nachrichten unter der Türe hindurch schieben. Sicherlich war das nur ein Versehen. Ich nahm den Brief an mich und öffnete neugierig die Türe.

»Harry du?«, fragte ich verblüfft.

The Story Of Our Life - Fata Viam Invenient | Harry StylesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt