28- Wo die Sonne aufgeht

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Jaromir

Es war nun schon zwei Tage her, dass sie sich im Dunkelwald von den anderen getrennt hatten. Seine Gedanken waren auf ihrem Ritt entlang der nördlichen Stolperstraße immer wieder bei Thara gewesen. Er ärgerte sich, dass er so schnell nachgegeben hatte und sie ohne ihn hatte gehen lassen. Ihm war ja klar, dass es die praktischste Aufteilung war, jedoch war sie nicht die einzige mit Verantwortung gegenüber ihrem Königreich. Er war ihr Leibwächter, er hatte damals, als er in den Dienst König Aldons getreten war, feierlich geschworen, die Königsfamilie mit seinem Leben zu verteidigen und nun war er nicht einmal da und konnte nichts tun, als zu hoffen, Thara würde nichts geschehen, denn das würde er gegenüber dem Königreich und vor allem gegenüber sich selbst nicht verantworten können. Auf ihrem Ritt hatten Drasere und er Tinnuviel zu jeder Pause überreden müssen. Ihrer aller Erschöpfung war auch ihr anzusehen, allerdings schien sie sie selbst nicht zu bemerken und drängte immer zu dazu, dass sie sich beeilen sollten. Jaromir verstand ja, dass sie es nicht riskieren wollte, dass König Tyrdan ihnen wohlmöglich zuvorkam, aber es stimmte auch, dass sie den Diamant nur schwer bekommen würden, wenn sie kollabierten, noch bevor sie das Lichtgebirge überhaupt erreichten, wie es Drasere mürrisch zusammengefasst hatte, als Tinnuviel sich geweigert hatte, eine längere Pause an einer Quelle in der Nähe des Nui Lua einzulegen.

Sie waren die Nacht über geritten, welche so nah an der Küste der Sonnenlande trotzdem unangenehm schwül war. Umso höher sie jedoch in die Berge gekommen waren, desto kühler wurde die Luft und es wehte eine leichte Brise. Nun dämmerte es bereits und die ersten Sonnenstrahlen krochen über die Gipfel. Jaromir schaute wie gebannt der aufgehenden Sonne entgegen. Er hatte sie immer gerne über dem Lichtgebirge aufgehen sehen, doch dem Schauspiel nun so nah zu sein, verschlug ihm für einen Moment den Atem und er war froh, dass Lana sich auch ohne seine Aufmerksamkeit als so trittsicher in dem schwierigen Gelände erwies.

"Wir sollten uns beeilen, solange die Sonne noch nicht vollständig aufgegangen ist, führt das Licht uns direkt zu den Lichtelben", ermahnte sie Tinnuviel und schnalzte, um Rih zum Trab zu treiben. Jaromir trabte Lana ebenfalls an, obwohl es ihm nicht behagte, die Stute auf dem unebenem Fels und den verwurzelten Pfaden so schnell laufen zu lassen. Auf keinen Fall durfte eines der Pferde stürzen und sich verletzen, schließlich würde der Weg zu Fuß viel zu lange dauern. Doch nach einem weiteren steilen Anstieg hob Tinnuviel bereits die Hand und Rih blieb abrupt stehen. Sie schwang sich aus seinem Sattel und da sah Jaromir auch, was sie gesehen hatte. In nicht einmal zwanzig Metern Entfernung ragte ein strahlend weißer Tempel auf. Er hatte keine Wände, nur ein von edel verzierten Säulen gehaltenes Dach unter dem sich gegen das gleißende Licht die Silhouetten von zwei oder drei Gestalten abzeichneten. Wie Jaromir es erkennen konnten, schauten sie alle der aufgehenden Sonne zu. Er tat es Tinnuviel gleich und stieg ebenfalls ab und als sie sich so ruhig wie möglich dem Tempel näherten, bemerkte er die bewaffneten Elben, die um die Säulen herum Wache hielten. Als Tinnuviel weiter auf den Tempel zuging, verkreuzten zwei von ihnen ihre langen Schwerter vor ihrer Brust und hinderten sie so daran, weiterzugehen.

Hier geht es nicht weiter, sagten ihre strengen Mienen, doch sie sprachen kein Wort. Tinnuviel machte ein paar Schritte zurück und nickte stumm. Sie wandte sich zu Jaromir und Drasere um und legte einen Finger an die Lippen. Jaromir wusste nichts über das Ritual der Lichtelben, mit welchem sie die Sonne jeden Morgen aufgehen ließen, doch auch ohne diesen Hinweis hätte er bemerkt, dass es offenbar eine stumme Angelegenheit war. Zwischen zwei Säulen hindurch spähend konnte er erkennen, dass der Tempel, anders als zu ihrer Seite, zur Sonne hin vollständig geöffnet war. Er war direkt auf den Gebirgskamm gebaut und das Gelände schien auf der anderen Seite sehr steil abzufallen, jedenfalls war der Erdboden von dieser Seite aus nicht zu sehen. An der äußersten Kante des Tempels saß eine Elbe im Lotossitz. Ihre langen dunklen Haare fielen in glatten Wogen ihren Rücken hinab und auf ihrem Kopf saß etwas, das wie ein Blätterkranz aussah. Bei genauerem Hinsehen wurde ihm jedoch klar, dass es gar keine Blätter waren, sondern viele funkelnde Diamanten. Um die Elbe herum standen drei weitere Wachen, eine davon betrachtete sie misstrauisch aus goldenen Augen, die anderen beiden schenkten ihnen jedoch keine Beachtung. Während sie warteten, vertrieb Jaromir sich die Zeit damit, mit den Augen eine Ameisenstraße zu verfolgen. Jede Ameise hatte ihren bestimmten Weg und jede wusste genau, wo sie hinwollte. Manche trugen mit mehreren Beeren oder Blätter, andere hingegen winzige Steinchen oder Eier, genau konnte er es nicht erkennen. Als er einer Ameise, welche etwas vom Strom abwich, probeweise seinen Fuß in den Weg stellte, machte sie ohne zu zögern einen Bogen darum herum und setzte ihre Route zielsicher fort. Er war so in die Betrachtung der Ameisen versunken, dass er das Ende der Zeremonie erst bemerkte, weil Tinnuviel sich vom Erdboden erhob und mindestens genauso zielsicher wie die Ameise erneut auf den Tempel zusteuerte. Die heilige Atmosphäre hatte so schwer in der Luft gelegen, dass Jaromir sich gleich leichter fühlte, nicht mehr um jeden Preis still sein zu müssen.

Des Königs letzter SchatzWhere stories live. Discover now