3- Die Legende des versunkenen Königreichs

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Es fühlte sich an, als hätte sie nur gerade mal zehn Minuten die Augen zu gemacht, doch am Stand der Sonne orientiert, nahm Thara an, dass es bereits spät am Nachmittag sein musste. Sie vergewisserte sich, dass Jaromir und Anori noch tief schliefen und verließ dann auf Zehenspitzen das Zimmer. Beim Verlassen des Gasthauses schlug ihr eine gewaltige Hitzewelle entgegen. Es war, wie wenn sie an den besonders kalten Frühlingstagen in Alonia den großen Holzofen angezündet hatten und sich nun davor knieten, um Holz nachzulegen. Mit dem einzigen Unterschied, dass die Öffnung des Ofens nun groß genug war, dass Thara hindurch treten konnte. Orientierungslos drehte sie sich in alle Richtungen, um zu entscheiden, wo sie mit der Suche nach Ronda beginnen sollte. Doch so viele Gebäude gab es in der Stadt gar nicht, überall standen nur diese merkwürdigen kleinen Türmchen. Auf einmal hörte sie helle Stimmen. Thara drehte sich nach links und sah eine Gruppe von einem halben Dutzend lachender Elbenkindern, die alle aus einem der Türmchen heraus kamen. Sie runzelte die Stirn, das Türmchen war vielleicht gerade mal so groß, dass man ein Doppelbett hätte hineinstellen können. Neugierig ging Thara nun auf das Türmchen zu, aus dem die Kinder eben herausgekommen waren. Sie öffnete vorsichtig die schwere Holztür und spähte ins Innere. Zu ihrer Überraschung war der Raum im Inneren vollkommen leer, nur in seiner Mitte befand sich ein stählernes Geländer und eine enge Wendeltreppe, die steil nach unten führte. Thara betrat den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen. Hier war es nur etwas kühler als draußen, doch als sie die Wendeltreppe hinabstieg, wurde es mit jeder Stufe angenehm kühler. Die enge Treppe führte insgesamt mehrere Meter unter die Erde und Thara fragte sich, was sie wohl unten erwarten würde. In ihrem Kopf ging sie schon von einem weiteren unterirdischen Tunnelsystem aus, dass es den Elben in Elbra ersparte, die ganzen Wege durch die Stadt in der prallen Sonne zurück zu legen, so wie es auch schon in weitem Umkreis vor der Stadt ein komplexes Tunnelsystem gegeben hatte.

Am Fuß der Treppe angekommen, stockte ihr der Atem vor Überwältigung. Die Treppen in den runden Gebäuden oberhalb der Erde führten eigentlich erst wirklich nach Elbra. Viele Meter hohe, von Elbenhand gebaute Höhlen erstreckten sich vor ihren Augen. Riesige Plätze mit steinernen Gebäuden, gepflasterte Wege und Straßen, die die etlichen kleinen und großen Bauwerke verbanden und über dem Ganzen eine hohe Kuppel, stabilisiert von marmornen Säulen und Stützen aus weißem Gestein, um die sich Pflanzen rankten. Winzige Feuerchen schwebten mitten in der kühlen Luft und tauchten die Stadt in ein magisches Licht.

Thara spürte die argwöhnischen Blicke, die einige Elben ihr im Vorbeigehen zuwarfen, und sie konnte es ihnen nicht verübeln. Sie versuchte sich zusammenzureißen und den Blick von den beeindruckenden Gebäuden und Lichtern abzuwenden, um auf ihre Füße zu achten, denn die Straße, auf der sie nun –hoffentlich- in Richtung der von Ronda erwähnten Königshallen lief, war zwar mit kleinen quadratischen Granitblöcken gepflastert, aber keineswegs ebenmäßig.

Königshallen war nach Tharas Meinung eine viel zu untertriebene Bezeichnung für das, was jetzt vor ihr lag. Die Straße, die sie genommen hatte, endete nach einer Kurve in einem breiten Platz auf dem mehrere ineinander verschachtelte Gebäude den Mittelpunkt der Stadt ausmachten. Hier liefen ebenfalls viele Elben herum, der Großteil von ihnen musste, nach ihrer Kleidung zu urteilen, sehr wohlhabend sein. Doch Thara fiel auf, dass alle Elben eines gemeinsam hatten, egal ob reich oder arm: Sie alle trugen ausnahmslos einteilige Gewänder, manche gewickelt, manche mehr wie lange Kleider, aber alle reichten sie bis zu ihren Füßen hinab und bedeckten diese, sogar die der Kinder, die Thara oberhalb der Erde gesehen hatte.

Auf dem breiten Platz blieb sie unschlüssig stehen und sah sich die Gebäude genauer an. Sie waren alle nicht besonders hoch, die höchsten hatten wahrscheinlich gerade mal zwei Stockwerke. Jede der einzelnen Hallen hatte eine andere Form, manche waren kreisrund, die meisten allerdings rechteckig, doch was sie alle verband, war der in hellen Weiß- und Brauntönen schimmernde, glatt geschliffene Stein, aus dem sie gebaut waren und die detaillierten goldenen Verzierungen überall auf den Dächern und an den Türen.

Des Königs letzter SchatzWhere stories live. Discover now