13- Dem Sturm entgegen

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Mit derselben Wahrscheinlichkeit, dachte Thara, könnten sie aber auch schon längst in irgendeinem Gefängnis in irgendeiner Stadt sitzen und auf ihre Hinrichtung warten. Oder tot sein. Es gibt immerhin unzählige Möglichkeiten. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Hingerichtet, ermordet, im Kampf gefallen, verhungert, begann die Stimme in ihrem Kopf aufzuzählen und sie konzentrierte sich krampfhaft darauf, sie zu unterdrücken und stattdessen Akira die Satteltaschen abzunehmen, die sie ebenfalls bei Demarta erworben hatte. Es half ja nichts, darüber zu fantasieren. Am liebsten hätte sie Tinnuviel gefragt: Was denkst du, glaubst du, die anderen leben noch, meinst du es geht ihnen gut?

Doch sie tat es nicht, aus Angst davor, Tinnuviel könnte etwas anderes antworten, als, dass es ihnen natürlich gut gehe und dass Thara sich keinerlei Sorgen zu machen bräuchte. Stattdessen brachte Thara nur ein Doch, das ist das Klügste heraus und begann damit, ihre Decke auf dem hohen Gras im Schatten der Brücke auszubreiten.

Das Fell der Pferde glänzte im Licht der untergehenden Sonne. Die Weiden begannen nur ein paar hundert Meter hinter dem Fluss und als die Herde sie entdeckte, kamen sie sofort herangetrabt. Lana stieß ein helles Wiehern aus, welches sofort vielstimmig erwidert wurde. Akira dagegen legte die Ohren im Angesicht der herannahenden Herde an und zeigte ihre spitzen Reißzähne. Thara streichelte beruhigend ihren Hals.

"Das sind noch Ekadias Weiden", stellte Tinnuviel überrascht fest. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit draußen sind, aber das dort ist ohne jeden Zweifel Mareis Hengst." Sie deutete auf ein dunkelbraunes Pferd mit heller wallender Mähne. Er war groß und machte ein paar wilde Sprünge, als die Herde in den Galopp verfiel.

"Den würde ich ja überall wiedererkennen", fuhr Tinnuviel mit träumerischem Blick fort. "Marei ist mit ihm nach Warnia geritten und schwärmte ununterbrochen von diesem Pferd. Muss wohl eine ganz besondere Abstammung gewesen sein, oder so etwas. Genau habe ich nämlich nicht zugehört." Versonnen schaute sie dem Hengst zu, der schon fast den Zaun erreicht hatte. Er war wirklich ein prächtiges Pferd, das musste auch Thara zugeben. Tinnuviels Blick wurde nachdenklich und wanderte den Zaun entlang. Zu spät begriff Thara, was sie vorhatte. Einige Meter vor ihnen lag ein Tor zu entsprechender Weide. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte Tinnuviel sich aus Lanas Sattel geschwungen, ihr ein Seil als Schlaufe um den Hals gelegt und ihre Trense abgenommen. Thara konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt wollte sie tatsächlich das Pferd der Königin stehlen. Aber was sollte schon passieren? Ein Kopfgeld hatten sie ohnehin längst sicher.

Thara stieg ebenfalls ab und befreite Akira von ihrem Gepäck. Es war klar, dass das Kelpie nicht länger als Reittier dienen musste, wenn sie nun zwei Pferde hatten. Tinnuviel reichte ihr Lanas Seil.

"Du kannst sie so reiten, sie ist sehr aufmerksam. Sprich mit ihr", sagte sie und öffnete das metallene Gatter.

"Hallo Hübscher." Der eben noch aufgeregt tänzelnde Hengst senkte nun schnaubend den Kopf, als Tinnuviel seine breite Stirn streichelte. Sie schien sofort eine beruhigende Wirkung auf ihn zu haben und Thara konnte nur da stehen, zwischen dem Kelpie und der Stute mit ihrem Gepäck in beiden Händen und staunend zusehen. Mit Leichtigkeit schwang Tinnuviel sich vom Boden aus auf den blanken Rücken des Hengstes und er ließ sie ohne Widerstand gewähren. Der Rest der Herde beäugte das Geschehen neugierig. Sie umrundeten Tinnuviel, kamen auf sie zu, beschnupperten sie und trabten fort, nur um nach einigen Tritten Kehrt zu machen und zurückzukommen. Thara öffnete das eiserne Tor ein Stück, sodass Tinnuviel herausreiten konnte und schloss es eilig wieder, damit der Rest der Herde nicht folgte. Dann schwang sie sich selbst in Lanas Sattel und streichelte Akira zum Abschied, die prompt davontrabte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, in Richtung des Flusses. Sie setzten ihren Weg dem Wind entgegen fort. Der alte Handelsweg führte sie auf ebenem Weg zwischen den Bäumen hindurch. Jedoch wurde er, umso weiter sie kamen, immer öfter von Ästen und Stämmen versperrt, die dem Sturm zum Opfer gefallen waren. Die Pferde mussten ganz genau aufpassen, wohin sie ihre Hufe setzten, um nicht auf einem der nassen Baumstämme wegzurutschen. Rih, wie Tinnuviel meinte, dass Marei den Hengst genannt hatte, ging sicher voran und auch, wenn mal ein Ast bedrohlich knarrte oder neben ihnen ins Laub fiel, blieb er ruhig und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Lana erschrak des Öfteren vor den unheimlichen Geräuschen, die der Sturm verursachte und als es Nacht wurde, wurde es schlimmer, da sie jetzt nicht mehr sehen konnte, woher die Laute stammten. Auch Thara behagte es nicht, in der Dunkelheit weiterzureiten, sollten sie nicht lieber rasten und die Reise am nächsten Tag fortsetzten? Doch als Thara Tinnuviel genau das fragte, verneinte sie. Es wäre viel gefährlicher, im Wald zu rasten. Die Bäume standen dicht, sodass es nicht möglich wäre, einen Rastplatz unter freiem Himmel zu finden und unter den Bäumen bei diesem Sturm wäre es zu gefährlich, zu verweilen.

Des Königs letzter SchatzWhere stories live. Discover now