41. Das Geständnis

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Ich zuckte schon wieder zusammen, als ich in der Ferne einen Schrei hören konnte.
Es war genau wie vor all den Nächten, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde. Damals hatte ich alleine in diesem Zimmer gelegen.

Doch diesmal spürte ich Raphaels Körper direkt neben mir. Ich musste eingedöst sein.

„Alles gut?", erkundigte er sich besorgt bei mir. Drückte mir dann einen Kuss auf den Kopf. Geknautscht richtete ich mich auf und fuhr mir über die Seite meiner Haare, mit der ich eben an Raph gekuschelt lag. „Ich habe schon wieder einen Schrei gehört", flüsterte ich.
„Was für einen Schrei?"
Ich lehnte mich gegen das Polster meines Bettes an der Wand. Mein Verlobter legte das Tagebuch, eines jener, die ich im Laufe meiner Existenz geschriebene habe, aus seiner Hand und lauschte mit gebannt. Das liebte ich an ihm, seine unvergängliche Liebe zu mir. Dass er mir seine volle Aufmerksamkeit gab. „Vor einigen Wochen war ich aus dem Schlaf aufgeschreckt, als ein spitzer Schrei durch die Nacht erklangen war. Damals warst du noch nicht hier, es war wenige Wochen nach unserem Wiedersehen. Aber, dieser Schrei... er- es war purer Schmerz, Entsetzen, Angst, Panik. All das zusammengemischt. Als wäre jemand gefoltert worden. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Es war ein paar Tage bevor sich mein Todestag jährte. Ich habe es darauf geschoben, dass ich vielleicht auch einfach schlecht geträumt hatte", erzählte ich.
Raphael nahm meine Hände in die seine und drückte mir einen Kuss auf diese.

„Möchtest du, dass wir nachschauen gehen?", erkundigte er sich bei mir und war schon halb aufgesprungen. Doch ich packte ihn nur beim Arm. „Nein, lieber nicht. Außerdem würden die Cullens sich Gedanken machen, wenn wir um diese Uhrzeit hinaus gehen würden." Ich biss mir auf der Unterlippe rum. Eine Angewohnheit Bellas, die ich hoffentlich nicht weiterführen würde.

„Hast du eine Ahnung, was es genau war? Oder wer?", erkundigte er sich. Ich blieb still. Wand mich von ihm ab und fuhr mir über den Nacken. „Lijah, du musst mir doch nichts vormachen. Hör mal, wir waren uns vor all den Jahren beide einig, dass wir uns gegenseitig einen Schwur geben wollen. Ein Schwur, dass wir uns ewig die Wahrheit sagen, uns vertrauen. Ich weiß nicht wie es dir damit geht, aber ich habe noch immer vor mich mit diesem Schwur vor Zeugen zu bekennen. Vielleicht reichen dir meine Worte nicht, aber vielleicht wird dir durch einen Ring klar, dass ich immer hinter dir stehe und stehen werde. Egal was sein mag."

Mit großen Augen schaute ich ihn an. Raphael hatte sich gerade zu mir bekannt - dass er mich heiraten wollte.
Es war an sich kein Schock, natürlich nicht, aber wir hatten, seit wir wieder zusammen waren, nie über unsere Verlobung und Hochzeit gesprochen.

„Ich habe den Verdacht, dass es Victoria ist."

Er nickte verstehend. Glauben tat er mir blind. „Und weiter?

„Vor etwas über einem Jahr, hatte ich erneut das Vergnügen, Victoria auf einem Ball der Kleinen zu sehen. Es war erst zwei Monate her, dass wir James, Victorias Gefährten, vernichtet haben und aus Rache versprach sie mir damals, dass sie jeden einzelnen meiner Familie auf schrecklichste Weise umbringen würde, bis nur noch ich übrig wäre. Sie drohte mir. Ich glaube, dass sie diejenige ist, die sich eine Armee aus Neugeborenen anschafft. Nur ist sie nicht diejenige, die alle rekrutiert. Sie muss jemanden verwandelt haben, der alles für sie erledigt. Victoria ist zu eingebildet und zu sehr auf die Rache fixiert, dass sie sich mit Neugeborenen abgeben würde."

„Hast du bereits jemanden im Kopf, der es sein könnte?"

„Ich habe einen Verdacht, ja."

Ich atmete, völlig überflüssig, tief ein und aus. Dann schaute ich Raphael ernst an, griff nach seiner Hand und hielt sie fest in der meinen. Ich fuhr mit dem Daumen über seine Fingerknöchel. Womöglich hatte er sich das, was ich jetzt sagen würde, bereits denken können - vielleicht war es aber auch ein Schock.
„Ich habe mich, an dem Tag, als ich meinen ehemaligen Umhang, die Kette mit dem Emblem der Volturi und den Brief bekommen habe, auch noch mit ihnen getroffen. Im Verborgenen. Sie wollten mich auf dem Dach eines Hauses in Seattle antreffen, die Adresse und die Uhrzeit standen auf dem Brief geschrieben. Und die Bitte, oder Befehl, möglichst volturihaft gekleidet zu sein und das Dach mit einem Schutzmantel von der Außenwelt abzuschotten. Unterbewusst hatte ich bereits eine Ahnung, dass sie mir etwas zeigen wollten, über das sie sich selber erst kürzlich unterrichtet haben. Doch was ich vorfand... war gleichzeitig erschreckend, aber auch aufklärend." Ein Blick auf Raphael und ich sah, wie er seine Lippen zu schmalen Linien zusammengepresst hatte. Seine helle Haut wirkte beinahe durchscheinend. Doch er schaute mich mit festem Blick an. Er war für mich da. Trotz seines Traumas bei den Volturi.
Erleichtert atmete ich aus. Natürlich nahm er es mir nicht übel, dass ich es vorher nicht gesagt hatte.
Er war immerhin Raphael.
Mein Raphael.

„Die Zwillinge, Demetri und Felix erwarteten mich bereits auf dem Dach. Anders als wir es zunächst gedacht haben, interessieren sich die Volturi doch für das eigenartige Geschehen in Seattle. Sonst hätten sie mich wohl kaum zu sich gerufen. Vom Dach aus konnten wir eine Gruppe Neugeborenen erkennen, die sich voller Heißhunger auf hilflose Menschen stürzten und... sich von ihnen nährten. Ihnen fehlte es an Kontrolle, sie waren undiszipliniert und wild. Alice konnte damals in ihrer Vision das sehen, was ich ebenfalls gesehen hatte. Riley Biers, ein Menschenjunge, der vor Monaten verschwunden ist, versuchte die Neugeborenen irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Sie sind nicht gerade unauffällig. Aber eine Armee. Felix bat mich damals um Diskretion. Sie wollen, dass die Neugeborenen genau das ausführen, wofür sie geschaffen wurden", erzählte ich das, was ich gesehen hatte.
„Hast du Victoria irgendwo gesehen?", fragte Raphael nach. Ich schüttelte den Kopf: „Nein, habe ich nicht. Aber wer soll es sonst sein. Außerdem hat Victoria uns Monate zuvor schon aufgelauert."

Wir blieben eine Weile still. Schwiegen uns an, waren uns aber dessen bewusst, dass der andere immer bei einem war.

„Sollte ich es den anderen sagen?"
„Ich bin ehrlich mit dir: ich weiß es nicht. Vielleicht ist es nicht so eine gute Idee", erwiderte Raphael nach einer Weile. Ich war nicht einmal überrascht über seine Antwort. Ich guckte ihn von der Seite an. „Ich auch nicht. Aber haben sie nicht ein Recht darauf es zu erfahren? Ich habe so oft schon gelogen."
„Zu ihrer Sicherheit, Liebling."
Ich seufzte tief und legte meinen Kopf auf Raphaels Schultern. Schloss die Augen.
„Denkst du an deinen Deal mit dem Black-Jungen?", begann Raphael plötzlich. Ich hob meinen schweren Kopf und guckte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Hast du unser Gespräch mitbekommen?"
Es wunderte mich tatsächlich nicht wirklich. Kurz nachdem Black damals seinen Freunden nachgelaufen war, waren Rose, Raphael, Emmett und wieder aufgekreuzt. Raphaels Gehör war eben neben meinem jenes, was am besten war. Raphael nickte zustimmend.

„Vielleicht sollte ich es selber machen und es nicht darauf ankommen lassen, dass jemand anderes Dinge ausplaudert, über die er keine Ahnung hat. Aber ich muss zugeben, eine Aussicht auf ein ruhigeres Leben nach diesem Kampf gegen die Neugeborenen: ich hätte nichts dagegen", erklärte ich ehrlich. Und es tat gut das mal auszusprechen. Mein Kopf fühlte sich ganz durcheinander an. Eigentlich schon seit wir von den Volturi aus Volterra zurück nach Forks gereist waren, hatte ich das Gefühl, als drohte ich zu entgleisen, einfach alles hinzuschmeißen und mich... in den Ruhestand zu setzen.

Kaum zu glauben. Ein Vampir im Ruhestand.

Ich hörte von Raphael das Ausschnauben eines Lachens. „Das fände ich auch schön."

Ich gab ihn einen forschenden Blick.
„Nein, wirklich!", er musste lachen „Ich vermisse die Tage von damals, als ich noch ein gewöhnlicher Mensch war und du nichts weiter als die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Ohne Gedanken darüber, dass vor mir das gefährlichste Raubtier des Planeten steht und sich im Hintergrund ein sadistischer Haufen angesammelt hat."
„Bereust du es? Verwandelt worden zu sein?"
„Unter den Bedingungen? Ja, ich hätte es mir wesentlich entspannter vorstellen können", wir lachten beide leise „Aber immerhin sind wir jetzt wieder vereint. Denn wenn es dich nie gegeben hätte - wir hätten uns nie im 21. Jahrhundert wiedergefunden."

Raphael zog mich an seine Brust und wie automatisch schlang ich meine Arme um seinen Hals, um ihn näher an mich zu ziehen.
„Also werden wir es ihnen morgen sagen?", erkundigte sich Raphael bei mir. „Ich denke ja. Laut Alice' Vision werden die Neugeborenen übermorgen ankommen. Bis dahin würde ich es ihnen gerne gesagt haben."
„Und danach?"
„Danach suchen wir uns ein schönes Fleckchen Erde, auf dem wir alt und grau werden können", antwortete ich lachend und drückte mich näher an Raphael, dessen herrliches Lachen an meine Ohren dröhnte.

Ich hatte so ein Glück mit ihm.
Nicht nur, weil wir uns nahezu blind verstanden, sondern eben auch deswegen, dass er mich in meiner Meinung bekräftigte. Er kannte die Cullens zwar lange nicht so gut wie ich, aber ich hatte Augen im Kopf und konnte mit ansehen, wie sehr sie ihm ebenfalls bedeuteten.
Wenigstens konnte ich so durch das Geständnis verhindern, dass dieses verdammte Wolfsjunge mir in meine Beziehungen funkte.

Hoffentlich hatte ich bloß noch eine Familie nach dem Kampf gegen die Neugeborenen, die wir in den Staaten besuchen gehen konnten...

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 01, 2023 ⏰

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