• like when we were young •

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Oktober 2010

Seit knapp einer Woche wohnte Robert nun in Freiburg und seit knapp einer Woche hatte er sein neues Zimmer im Studentenwohnheim nicht verlassen. Die Umzugskartons standen unausgepackt in seinem Zimmer herum, auf dem Boden türmte sich ein Stapel mit schmutziger Wäsche und er ging nur vor die Tür, um sich gelegentlich mal im Bad die Zähne zu putzen, zu duschen und sich etwas Frisches anzuziehen.

Doch selbst das war in den letzten Tagen seltener geworden. Die Flecken, die sich auf seinem T-Shirt angesammelt hatten, stammten teilweise von Fertiggerichten, die er vor drei Tagen gegessen hatte. Das sagte ungefähr aus, wann er das letzte Mal das Bad von innen gesehen hatte.

Er hatte schlicht keine Kraft, sein Bett geschweige denn das Zimmer zu verlassen. In den ersten zwei Wochen, nachdem er Hamburg verlassen hatte, war er zuhause gewesen und seine Familie hatte ihn ziemlich gut von seinem gebrochenen Herzen abgelenkt. Doch als er plötzlich allein gewesen war, in einer fremden Stadt, hatte ihn die Stille rasch eingeholt und er hielt die Sehnsucht nach Annalena kaum noch aus. Sie fehlte ihm so sehr, dass er kaum schlafen konnte.

Robert hatte vorher gewusst, dass er schwer für ihn werden würde, wenn sich ihre Wege trennten, aber dass er so leiden würde, hatte er nicht für möglich gehalten. Ständig fragte er sich, was sie wohl gerade machte, ob es ihr gut ging, ob London ihr gefiel und diese Ungewissheit brachte ihn fast um.

Es klopfte plötzlich an der Tür. Robert schreckte aus dem Halbschlaf - der wieder mal kaum erholsam gewesen war - aber da er sich sicher war, dass wohl niemand zu ihm wollen konnte, wo er doch noch keinen in der Stadt kannte, entschied er sich dazu, das immer energischer werdende Klopfen einfach zu ignorieren.

„Robert Christoph Habeck!! Ich weiß, dass du da bist, also mach' verdammt nochmal die Tür auf!", meckerte eine ihm mehr als vertraute Stimme vor der Tür.

Unsicher, ob er sich nicht vielleicht doch verhört hatte, stand der Dunkelblonde nun doch auf und bewegte sich schlurfend zu Tür. Doch er hatte sich nicht verhört: Als er vorsichtig die Tür öffnete, stand dort tatsächlich sein jüngerer Bruder vor ihm.

„Hinrich?!", murmelte er ungläubig, rieb sich die Augen, um sich zu vergewissern, dass er durch den Schlafmangel der letzten Tage nicht schon an Halluzinationen litt. „Was-, was machst du denn hier?"

Sein jüngerer Bruder schüttelte beim Anblick des Älteren in seinem schmuddeligen T-Shirt und der tief sitzenden Jogginghose nur den Kopf, schob sich an ihm vorbei und schloß die Tür hinter sich. „Mama hat mich angerufen. Sie macht sich Sorgen, weil du seit Tagen nicht mehr ans Telefon gehst, man.", sagte er vorwurfsvoll. „Und weil meine Vorlesungen erst nächste Woche anfangen, hat sie mich gebeten, bei dir vorbeizuschauen, um sicher zu gehen, dass du nicht schon halb verrottet in deinem Zimmer liegst."

„Du-, du bist extra hergekommen??", fragte Robert fassungslos. „Das sind fast...800 Kilometer, Hinrich."

„Danke, ich weiß.", erwiderte dieser trocken. „Da siehst du mal, wie wichtig du uns bist."

Robert ließ sich sprachlos auf sein Bett fallen, während sich nun das schlechte Gewissen in ihm breit machte. Er hatte nicht gewollt, dass seine Mutter sich Sorgen machte oder dass sein Bruder einmal quer durch die Republik fuhr, um nach ihm zu sehen. Er fühlte sich plötzlich wie das größte Arschloch überhaupt, der totale Egoist, weil er nicht mal darüber nachgedacht hatte, dass seine Familie sich um ihn sorgen könnte, wenn er tagelang all ihre Anrufe ignorierte. Er war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er schlicht keine Kraft dazu gehabt hatte ans Telefon zu gehen geschweige denn über seine Gefühle zu reden.

Bestürzt schaute er seinen Bruder an. „Ich- Es tut mir Leid. Ich wollte echt nicht, dass Mama sich Sorgen macht oder Papa o-oder du. Ich-, ich konnte einfach nicht-" Seine Stimme brach ab und augenblicklich war Hinrich zur Stelle und setzte sich neben ihn auf sein ungemachtes Bett, klopfte ihm mitfühlend auf den Rücken.

golden ageDonde viven las historias. Descúbrelo ahora