Kapitel 32

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Nachdem ich fertig geduscht habe, ziehe ich mir frische Kleidung an und verlasse das Badezimmer. Unschlüssig stehe ich in der Küche herum und überlege. Was nun? Herumsitzen und langweilen? Ich könnte rein theoretisch ein wenig umherlaufen. Vielleicht gehe ich sogar mal wieder in die Stadt. Auch wenn Harry nicht unbedingt davon begeistert sein wird, doch ich lasse nicht zu, dass er über mein Leben bestimmt.

Also schnappe ich mir eine Jacke, verlasse die Hütte und lege den Schlüssel in einen Blumenkasten neben der Tür. Wobei es ohnehin sehr unwahrscheinlich ist, dass jemand vorbeikommt. Alles hier liegt am Arsch der Welt.

Mein Weg führt irgendwo durchs Nichts. Ich war noch nie in dieser Gegend, immer ging ich nur zum Rudel und wieder zurück. Zwar führt ein kleiner Pfad von der Hütte aus zur Stadt, aber den nutze ich so selten wie möglich, damit er nicht noch klarer abgrenzbar vom restlichen Wald ist. Immerhin möchte ich nicht, dass sich doch mal irgendwann Menschen hier her verirren.
Schließlich komme ich auf einen Art Schotterweg. Ich merke schon, dass es hier anders riecht. Der Duft nach Nadelholz, Laub und Moos ist verschwunden. Stattdessen riecht es nach fettigem Essen, Abgasen und... naja, so wie Menschen eben riechen. Ekelhaft.
Auch die Geräusche sind nun anders. Im Wald hört man immer irgendwo das leise Summen einer Biene oder das Zwitschern der Vögel, doch hier ist es wie in einer anderen Welt. Ich bin noch nicht einmal wirklich in der Stadt, und doch höre ich den Verkehrslärm und Stimmen. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie gut Wölfe sowohl riechen, als auch hören können. Vor mir liegt eine Weggabelung. Nachdenklich betrachte ich beide Straßen kurz, dann folge ich jedoch der linken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die andere wieder zurück in den Wald geführt hätte und da möchte ich gerade nicht hin. Also gehe ich den harten Betonweg entlang. Meine Füße schmerzen schon. Ich bin es nicht gewohnt, auf diesen festen Böden zu laufen und meine Schuhe sind auch absolut nicht dafür gemacht. Ich weiß nicht einmal, ob man solche Kleidung bei den Menschen kaufen kann. Alles was ich besitze, fertigte meine Mum für mich an, als ich noch kleiner war. Naja, zumindest jünger. Gewachsen bin ich inzwischen nicht mehr wirklich, aber dafür passt mir noch alles. Und alle aus Harrys Rudel tragen ähnliche Kleidung wie ich. Meine Mum sagte einmal, dass diese bezweckt, dass wir uns vor dem Wandeln in die wölfische Form nicht extra ausziehen müssen. Die Kleidung verschwindet einfach und ist erst dann wieder an unserem Körper, wenn wir uns zurückwandeln.

Ein lautes Hupen reißt mich aus den Gedanken. Erschrocken hüpfe ich zur Seite, wobei mir ein leises Quietschen entkommt. Beschämt vor diesen weibischen Geräuschen schüttle ich den Kopf über mich selbst.
Der große Lieferwagen rumpelt an mir vorbei und ist kurz darauf verschwunden. Nur eine riesige Staubwolke hinterlässt er. Hustend wedle ich mit meinen Armen in der Luft herum, damit die Sicht ein wenig klarer wird. Ich hasse diese Abgastonnen. Wofür braucht man denn unbedingt so ein Auto? Kann man nicht laufen? Oder Fahrrad fahren? Mein Dad baute mir früher mal eines, was sich sogar im Wald ganz gut fahren ließ. Aber dafür war ich schließlich doch zu groß, sodass meine Schwestern es übernommen haben.

Der Wald vor mir lichtet sich allmählich. Bald schon sind keine grünen Bäume mehr am Wegrand sondern hässliche Häuser. Ein Hustanfall nach dem nächsten überkommt mich, so sehr stinkt es hier. Ich hatte es nicht mehr so schlimm in Erinnerung. Ich reduziere mein Tempo ein wenig, sodass ich nicht mehr so tief atmen muss. Erleichtert stelle ich fest, dass es besser wird. Unauffällig schleiche ich mich ein wenig näher an das Geschehen und setze mich auf eine Bank, die ziemlich versteckt in einer Nebenstraße steht. Von hier aus habe ich den perfekten Blick zwischen zwei Häusern hindurch auf das bunte Treiben.
Es vergehen fast zwei Stunden, in denen ich einfach nur herumsitze und alles beobachte. Es ist faszinierend, diese Menschen zu beobachten. Kinder, die einfach losschreien, weil sie keine Aufmerksamkeit von ihren Eltern bekommen. Erwachsene, die überfordert mit ihrem Nachwuchs sind oder einfach allein mit einem komischen, viereckigen Gerät irgendwo sitzen. Und alte Menschen, die vor einem Laden hocken und Tee trinken. Alles in Allem nerven diese Wesen mich einfach. Jeder macht was er will. Vor allem frage ich mich aber, warum sie uns Wölfe nicht in Ruhe lassen können. Natürlich gibt es auch Rudel, die die Tiere der Menschen angreifen, doch eigentlich weiß jeder von uns, dass das nicht erlaubt und außerdem mehr als gefährlich ist. Nicht nur einmal wurden Wölfe erschossen, weil sie eine Schafsherde angriffen. Das wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie man nur so doof sein kann. Im Wald gibt es genug Tiere, die man jagen kann.

Einige Jugendliche betreten die Seitenstraße. Sie haben Glimmstängel und Alkoholflaschen in der Hand. Ich versuche, so weit wie möglich mit der Bank zu verschmelzen, sodass sie mich am Besten gar nicht bemerken. Sie sind fast an mir vorüber, als jedoch einer von ihnen stehenbleibt und mich abfällig mustert. Dann flüstert er zu seinem Freund etwas zu, das ich jedoch trotz meiner guten Ohren nicht verstehen kann.
Fakt ist aber, dass die Gruppe daraufhin wieder näher zu mir kommt und blöd lacht. "Wo hast du das denn ausgegraben? Im Müllcontainer?", fragt einer und deutet auf meine Kleidung. Eine Antwort bekommt er von mir nicht. Ich starre weiterhin auf die Wand direkt gegenüber. Er stellt sich in mein Blickfeld und kommt mir etwas näher. "Ich habe dich etwas gefragt... Willst du mir nicht antworten?" Meine Augen funkeln ihn wütend an. Verächtlich trinkt er einen Schluck aus seiner Flasche. Die anderen um ihn herum lachen nur und scheinen ihren Spaß zu haben.
Der junge Mann blickt mich noch einmal an, dann breitet sich ein böses Grinsen auf seinem Gesicht aus, bevor er den Alkohol direkt auf mein Shirt spuckt. Ich schließe kurz meine Augen, um keine Reaktion zuzulassen. Auch als er mir einen Schlag gegen die Schulter verpasst, würdige ich ihm keinen Blick.

"Los, verpass ihm eine Abreibung!", ruft jemand lachend.

Ehe ich mich versehen kann, hat der Kerl mich plötzlich von der Bank auf den Boden gezerrt und verpasst mir einen Tritt in den Bauch. Ich lasse ein ersticktes Keuchen los. Für einen Moment bleibt mir die Luft weg. Als ich mich wieder fange, tritt er erneut gegen meine Brust. "Hör auf", murmle ich schlussendlich. Ich wollte es vermeiden, mit ihnen zu reden. Für uns Wölfe klingt unsere Stimme normal, doch für Menschen klingt sie tiefer und ist mit einem merkwürdigen Akzent besetzt. Doch dies scheint den Kerl gar nicht zu interessieren. Er verpasst mir einen Faustschlag gegen den Kiefer. Augenblicklich schmecke ich Blut in meinem Mund.

Und dann kann ich nicht anders. Ich knurre.

Der Mann bekommt große Augen und lässt von mir ab. Als ich das Blut direkt vor seine Füße spucke und erneut knurre, schnappt er sich seine Flasche und nimmt mit seinen Freunden endlich Reißaus.

Erleichtert atme ich durch und bleibe kurz liegen. Alles schmerzt. Bei Harry wären die Verletzungen morgen bestimmt wieder verheilt, doch unter einer Woche wird das bei mir nicht geschehen.
Kraftlos versuche ich mich aufzusetzen. Dann höre ich erneut Schritte. Ich blicke hinter mich, doch diesmal ist es eine alte Dame mit Gehstock. Sie sieht mich an und kommt zu mir. Wortlos kniet sie sich nieder und betrachtet die Verletzung an meinem Kiefer. Dann schweift ihr Blick über meinen restlichen Körper. Sie lächelt ein wenig und hilft mir dann vorsichtig auf. Ich stütze mich an der Wand hinter mir ab, als sich kurz alles dreht. "Was machst du hier, mein Junge?", fragt sie leise. - "I-ich... nichts...", murmle ich und senke meinen Blick. Sie nimmt meine Hand in ihre und streicht darüber. "Du passt hier nicht her. Hier ist es gefährlich", erklärt sie. Erst jetzt sehe ich ihr richtig in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich in ihren etwas aufflackern. Als erkenne sie mich irgendwoher. Aber womöglich täusche ich mich da nur.

"Geh zurück. Du darfst dich nicht an diesem Ort blicken lassen, hörst du?", fragt sie leise. Ein sachtes Nicken meinerseits.
"Wie heißt du, mein Junge?"

"Louis, Ma'am", nuschle ich schüchtern. - "Louis also... Ein schöner Name." Ein kleines Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Sie streicht mir noch einmal über den Handrücken und tritt einen Schritt zurück. "Pass auf dich auf, ja? Und bitte bleib dort, wo du hingehörst." Ich nicke beklommen und sehe ihr noch nach, wie sie langsam um die Hausecke verschwindet. Das Klackern ihres Gehstocks hallt noch lange nach. Endlich fange ich mich wieder und mache mich unauffällig auf den Rückweg. Schnell lasse ich die Stadt hinter mir und mit ihr diese komischen Kreaturen, die auf nichts als Gewalt aus sind.

Als ich endlich wieder in einer halbwegs bekannten Umgebung ankomme, lasse ich mich erschöpft auf den Boden sinken. Meine Finger tasten kurz meinen Bauch ab. Ich hebe das Shirt ein wenig hoch und beiße erschrocken meine Zähne zusammen. Ein riesiger Bluterguss hat sich bereits gebildet, was auch die Schmerzen beim Atmen erklärt. Wie meine Brust oder auch mein Kiefer aussehen, möchte ich lieber gar nicht wissen. Zum Glück kann Harry mich gerade nicht sehen. Er würde ausrasten, wenn er wüsste, dass ich in der Stadt war.

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Ich weiß, es ist ein relativ unspektakuläres Kapitel, ich hoffe das ist nicht so schlimm😅🤭

Beim nächsten Mal gibts wieder Larry😊

Bis bald

Ps: schaut gerne mal bei Kapitel 30 vorbei, das wurde wohl manchen nicht angezeigt😅😅

Secret white lies - L.S.Where stories live. Discover now