Kapitel 6

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Zwei weitere Tage vergehen, in denen ich die Hütte nicht verlassen durfte. Nun ist jedoch Abend und Liam hält mir eine Jacke und meine Schuhe entgegen. Ich sehe ihn fragend an, doch er nickt mir ermutigend zu. "Na los", fordert er mich auf. Ich seufze und ziehe dann beide Sachen an. Liam nickt zufrieden und öffnet die Tür. Ich blinzle ein paar mal unsicher zwischen ihm und der Tür hin und her. "Was ist? Worauf wartest du?", fragt er und macht eine einladende Handbewegung. - "I-ich.. ich traue mich nicht", gebe ich zögerlich zu und knete nervös meine Hände. Liam lächelt sanft und kommt zu mir ans Bett. "Warum nicht? Ich bin doch bei dir", sagt er. Ich zucke mit den Schultern und werfe erneut einen Blick zur Tür.

"Du hast Angst, dass Harry da draußen ist, richtig?"

Ich nicke langsam. Liam streicht beruhigend über meine Schulter. "Harry ist auf der Jagd. Er hat ein paar andere Wölfe zum Training mitgenommen, was bedeutet, dass sie noch eine ganze Weile unterwegs sein werden", erklärt er, "außerdem müssen wir diese Chance jetzt nutzen, es wird schnell dunkel". Mit diesen Worten erhebt er sich wieder und streckt seine Hände nach mir aus. "Na los, Kleiner". Ich schlucke und umgreife seine Handgelenke, womit ich mich stützend hinstellen kann. Mit zittrigen Beinen setze ich einen Schritt vor den anderen. "Siehst du, das klappt doch super", sagt Liam zufrieden und beobachtet meinen unsicheren Gang. "Aber es tut noch weh", murmle ich und packe fester nach Liams linken Arm. Fast wäre ich gefallen. Aber nur fast. "Das ist ganz normal. Die Naht kommt durch die Schritte etwas auf Zug, aber die Fäden sind alle gezogen und somit kannst du wieder alles komplett belasten, soweit es die Schmerzen zulassen".

Ich nicke langsam. Wir sind an der Tür angelangt. Ich starre nach draußen. Alles was ich sehe ist ein Wald.

"Meine Hütte steht etwas abgelegener als die anderen. Mir gefällt das so besser", erklärt Liam, als er meinen fragenden Blick sieht. - "Und du darfst das?", entgegne ich ungläubig. Bei uns war so etwas nie erlaubt. Alle Hütten standen dicht an dicht, damit im Notfall jeder eingreifen kann. Ich mochte das nie. Man kam sich immer beobachtet und belauscht vor. "Klar", ist Liams einzige Antwort.

Ich atme tief durch, dann setze ich langsam meinen Fuß über die Türschwelle. Liam geht an meine Seite und stützt mich etwas. Wir verlassen die Hütte langsam. Kaum sind wir draußen angekommen, beginnen meine Beine erneut zu zittern. "Warum hört das nicht auf?", frage ich kläglich. Liam schmunzelt. "Das ist ganz normal. Du bist wochenlang nur gelegen und außerdem bist du jetzt das erste mal wieder draußen an der frischen Luft, noch dazu in einer fremden Umgebung. Dein Körper muss damit erstmal klarkommen, so viele Eindrücke zu verarbeiten. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass du-"

"...dass ich ein Omega bin, schon klar", brumme ich genervt.

Liam seufzt und stellt sich wieder vor mich. "Louis, du darfst das Ganze nicht so negativ sehen. Es ist doch toll, ein Omega zu sein!"

Ich schnaube spöttisch. "Klar!"

Liam runzelt die Stirn und sieht mich fragend an.

Dann erzähle ich.

"Omegas sind einfach nur Opfer! Durch ihren niedrigen Rang und ihre Haltung sind sie immer nur die Zielscheibe des Rudels! Die Sündenböcke! Egal was passiert, alles wird bei den Omegas abgeladen, egal ob sie unschuldig sind oder nicht! Und es kotzt mich an! Nicht einmal einen freien Willen darf ich haben! Alles wird über meinen Kopf hinweg entschieden! Wann ich gebissen werde, von wem ich gebissen werde, wie viele Welpen ich austragen soll und mit welchen Personen ich mich abgeben darf! Nicht einmal über mein Essen darf ich entscheiden!" Ich balle wütend meine Fäuste und beiße meine Zähne fest zusammen. Liam starrt mich geschockt an.

"D-das... deshalb hasst du das so", murmelt er. Ich nicke aufgebracht. Ich bin gerade richtig in Fahrt.

"Und außerdem ist es scheiße, so schwach zu sein. Egal wie oder durch was ich mich verletze, es dauert fast dreimal so lange, bis alles verheilt ist, wir bei einem Beta oder einem Gamma. Vom Alpha mal ganz zu schweigen. Und kämpfen könnte ich auch niemals. Sei es, dass ich einfach nicht genug Kraft habe oder auch einfach alle anderen größer sind als ich."
Liam brummt verstehend und schiebt mich ein wenig mit sich, damit ich weiterlaufe. "War das in deinem alten Rudel alles so?", fragt er nach einer Weile. Ich nicke frustriert. "Immer schon. Und nicht nur dort".

Secret white lies - L.S.Where stories live. Discover now