Kapitel 18

1.3K 137 19
                                    

"Möchtest du noch sitzen bleiben oder können wir weiter?", frage ich nach einigen Minuten. Harry liegt weiterhin neben mir und hat die Augen geschlossen. "Wir können weiter", murmelt er und setzt sich ächzend auf. "Ist wirklich alles okay?", frage ich besorgt, "ich kann auch zurück gehen und Liam holen. Er kann uns das Zeugs bestimmt zur Hütte schieben." Harry schüttelt bestimmt mit dem Kopf und steht wankend auf. Ich gehe schnell zu ihm, um mich gegen ihn zu stemmen. "Es geht schon", sagt er und schiebt die Schubkarre weiter voran. Unschlüssig folge ich ihm. Seine Schritte sind langsam und bedächtig, als müsse er aufpassen, nicht umzuknicken. "Und du bist dir sicher, dass der Vollmond erst in fünf Tagen ist?", frage ich. Mein Blick schweift über den Himmel, in der Hoffnung, irgendein Anzeichen darauf zu finden, welcher Mond heute Nacht ist. Doch die Bäume verdecken zu viel vom Himmel, ich kann kaum etwas sehen. "Ja, ganz sicher. Ich denke, dass mich der Fußmarsch heute Morgen einfach geschlaucht hat. Morgen wird es bestimmt besser sein", versichert er und schenkt mir ein mildes Lächeln. "Wenn du meinst", murmle ich wenig überzeugt.

Als wir zu Hause ankommen, lässt Harry die Schubkarre erschöpft sinken und geht langsam zur Haustür. "Möchtest du etwas trinken?", frage ich und öffne die Tür. "Gern." Besorgt betrachte ich, wie Harry sich auf den Stuhl fallen und den Kopf auf die Tischplatte sinken lässt. Ich gehe zum Wasserhahn und fülle ein Glas voll, das ich Harry reiche. Seine Hand ist zittrig, als er es an seine Lippen hebt und langsam trinkt. Plötzlich scheint ihn jedoch die Kraft vollends zu verlassen. Ich sehe, wie das Glas ein einen Abgang macht. Nur in der letzten Sekunde kann ich es auffangen und auf den Tisch stellen. "Okay, das reicht. Du legst dich jetzt erstmal hin und schläfst eine Runde", bestimme ich und lege meinen einen Arm um Harrys Hüfte. Mit aller Kraft stemme ich ihn nach oben und helfe ihm bis ins Schlafzimmer. Er lässt sich regelrecht auf mein Bett fallen. Ich lege ihm das Kissen zurecht und ziehe seine Schuhe aus. "Hast du immernoch Durst?", frage ich dann. Immerhin ist die Hälfte des Wassers auf dem Boden gelandet. "Ein bisschen", murmelt Harry mit geschlossenen Augen. "Warte kurz, ich bringe dir noch etwas." Eilig gehe ich in die Küche zurück und befülle das Glas erneut mit Wasser. Dann gehe ich zurück zu Harry und setze mich neben ihn auf die Bettkante. Vorsichtig lege ich meinen Arm unter seinen oberen Rücken und stütze ihn etwas hoch. Dann halte ich das Glas an seine Lippen und kippe es langsam. Harry trinkt gierig einige Schlucke und schiebt dann meine Hand weg. "Danke", murmelt er. "Gerne. Versuche, etwas zu schlafen, ja?" Er nickt leicht und legt sich etwas bequemer hin. Schon wenige Sekunden später sind seine Atemzüge langsam und gleichmäßig. Mit einem Tuch tupfe ich behutsam den Schweiß von seiner Stirn.

Dann schließe ich leise die Tür hinter mir und beginne damit, das Wasser vom Boden zu wischen. Jedoch lasse ich schnell meine Hand mit dem Lappen sinken. Harrys Zustand macht mir mehr als Sorgen. Von einem Moment auf den anderen ist er plötzlich so kraftlos und geschwächt. Ob das wirklich von heute Morgen kommt? Klar, er hat mich ein ganzes Stück getragen und anschließend  hatten wir auf dem Rückweg das Holz dabei, doch so schwer sind die Bretter eigentlich nicht. Natürlich war auch vorhersehbar, dass sich früher oder später der Vollmond bemerkbar macht, doch es ist mehr als komisch, dass ich bis jetzt so gut wie nichts spüre und Harry so kaputt ist. Selbst nach dem langen Tag könnte ich nach ein paar Minuten sitzen wieder auf den Beinen sein und mich bewegen. Aber Harry sieht nicht danach aus, als würde er sich heute noch von der Stelle bewegen. Liegt es vielleicht daran, dass er schon ein paar Jahre älter ist als ich? Aber er ist immernoch ein Alpha, normalerweise sollte er den Vollmond nicht so stark spüren.

Seufzend stehe ich wieder auf und werfe den nassen Lappen in die Spüle. Dann beginne ich damit, eine Karottensuppe zu kochen. Harry wird heute bestimmt nichts Festes mehr herunter bekommen, aber ein wenig Suppe kann ja nicht schaden, damit er wieder zu Kräften kommt.

~*~

"Harry? Bist du wach? Ich habe ein wenig Suppe gekocht." Auf leisen Sohlen schleiche ich ins Schlafzimmer und umrunde das Bett. Harry hat seine Augen geschlossen. Er scheint noch zu schlafen. Vorsichtig stelle ich den Teller auf dem Nachttisch ab und tippe seine Schulter an. "Harry?", flüstere ich. Er grummelt leise und mürrisch, dann öffnet er blinzelnd seine Augen. "Hey, da bist du ja wieder. Wie fühlst du dich?", frage ich. Er befeuchtet seine Lippen mit der Zunge und hebt seinen Kopf ein wenig an. "Ich bin so müde", nuschelt er. "Du kannst gleich weiter schlafen, aber du musst noch etwas essen. Heute Mittag hattest du nicht so viel und du brauchst Kraft", erkläre ich und setze mich neben ihn. Er seufzt und kommt mühsam ins Sitzen. "Mir ist so schwindelig", grummelt er und hält seine Hand vor die Augen. Schnell knülle ich die Bettdecke zusammen und lege sie hinter seinen Rücken. "Lehne dich an, vielleicht wird es dann besser", schlage ich vor und drücke ihn sanft zurück gegen das Polster. "Und?", frage ich. Er atmet tief durch und öffnet dann seine Augen wieder. "Es geht... Aber ich habe keinen Hunger", sagt er unschlüssig.

Secret white lies - L.S.Where stories live. Discover now