Kapitel 17

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Weil ich euch ja so lange haben warten lassen, kommt heute noch ein Kapitel :) Ich hoffe, es gefällt ^^

Schonmal als kleine Warnung. Es ist sehr lang :)

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Auf dem Weg zurück zu Carter und den Anderen, kann Tessa es nicht lassen, über Erics Verhalten zu philosophieren.

"Wenn ich‘s nicht besser wüsste, würde ich sagen, er ist eifersüchtig. ", sagt sie nun. Ich versuche, es zu ignorieren, doch sie starrt mich gerade zu an.

"Dann ist ja gut, dass du es besser weißt.", gebe ich zurück. Ich habe so absolut keine Lust, mir jetzt auch noch über so etwas Gedanken zu machen.

Tessa sieht mich weiter an, entscheidet sich dann aber anscheinend, die Klappe zu halten.


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Ein Informationszettel hängt aus. Ich kann ihn nicht lesen.

Eric will, dass ich ihn vorlese. Ich kann es nicht. Ich habe nie lesen gelernt. Ein paar Worte sind kein Problem. Namen, Zahlen. Aber ganze Sätze?  
Ich gehe nach vorn. 

Hunderte Ferox sehen mich an. Mein Herz pocht, mir ist schlecht. Was soll ich tun? Mein Blick fällt auf die Tafel. Ich sehe den Buchstabensalat. Ich versuche die Buchstaben schon im Laufen zu entziffern. Vielleicht schaffe ich es, bis ich an der Tafel bin. Dann stehe ich vorn. Eric steht links neben der Tafel. In der Hand hält er ein Gewehr.

"Lies vor.", sagt er streng. Ich schlucke. Erst sehe ich in die Menge. Die Leute sehen mich ausdruckslos an. Ich suche meine Freunde in der Menge. Ich sehe sie aber nicht. Wo sind sie? 

"Wird das heute noch was?", will Eric wissen. Er sieht so wütend aus, dass mir noch schlechter wird. Ich drehe mich zu der Tafel und den Ferox den Rücken zu. Ich kneife die Augen zusammen.

"Den...", fange ich an zu lesen. "Den - Ini - Initi - anten wi - wir- wird auf- aufge- aufgetragen ...“, hinter mir höre ich erst Getuschel, dann Gelächter. Es wird immer lauter. Ich versuche weiter zu lesen, doch die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen.

Vorsichtig drehe ich mich um. Alle zeigen sie mit dem Finger auf mich. Einige krümmen sich vor Lachen. 

"Du kannst nicht mal lesen?", höre ich Eric. Er sagt es noch herablassender, als er jemals mit irgendwem geredet hat. "Nicht einmal DAS kannst du? Was kannst du überhaupt?"

Ich starre ihn an und ringe nach Luft. Ich laufe rot an. Alle lachen. Auch Maddie, Tessa, Feretti, Carter und Shepherd. Sie stehen ganz in der ersten Reihe und lachen mich aus.

"Was willst du hier, wenn du nicht einmal lesen kannst?", fragt mich Eric hart. 

Ich schwitze. Die Schweißperlen laufen an meiner Stirn herab. Mir ist unendlich heiß. Was soll ich nur tun? Unglaubliche Traurigkeit überkommt mich, als ich meine Freunde sehe, die mich auslachen. Ausgerechnet sie. Wieso verstehen sie es nicht? Ich war nie auf einer Schule. Meine Eltern starben, als ich zehn war. Niemand hat es mir je beigebracht. 

Obwohl ich ein paar Sachen lesen und schreiben konnte, hatte ich andere Sachen zu tun gehabt, als es richtig zu lernen. Ich hatte auf der Straße gelebt. Ich hatte nie ein richtiges Dach über dem Kopf gehabt.

Ich werde wütend. Ich drehe mich zu Eric.

"Ich kann nicht lesen und ich muss es auch nicht können!", sage ich laut. "Ich bin nicht hier, um Vorträge zu halten. Ich bin nicht hier, um aus Büchern vorzulesen. Ich bin hier, um zu kämpfen."

Eric steht stocksteif da. Wieder einmal strafft er die Schultern, nachdem er seine Arme vor dem Körper verschränkt hat. Eine gewohnte Geste.

Ich drehe mich zu den anderen Ferox. Keiner lacht mehr. Ich sehe zu meinen Freunden. Sie lächeln. Sie lächeln mich an. Freundlich, verstehend, unterstützend. Ich beruhige mich, das rot aus meinem Gesicht verschwindet.

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Dann ist es vorbei. Es war wieder nur eine Simulation. Ich lasse mich erschöpft in den Stuhl zurücksinken und schließe die Augen. Ich will nicht wissen, was nun passiert. Was Eric zu der Simulation sagt. Er hat alles gesehen. Sicher wird er mich auslachen, wie der Eric in der Simulation.

"Knapp 12 Minuten.", sagt er. Sein Ton ist ernst. Ich will ihn gar nicht ansehen. Ich weiß, was er von mir halten muss.

"Ich kann dir noch ein Kissen holen, wenn du hier pennen willst.", höre ich seine strenge Stimme. Ich mache die Augen auf und stehe schnell auf. Ich habe fast vergessen, dass ich gehen muss. Eric bleibt auf seinem Stuhl sitzen. Offenbar macht er sich nicht mal mehr die Mühe aufzustehen und mich zu entlassen.

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Ich gehe hinaus und sehe, dass keiner meiner Freunde hier ist. Wahrscheinlich sind sie auf der Krankenstation bei Carter. Ich mache mich auf den Weg dorthin und finde sie tatsächlich.

Carter bleibt bis auf weiteres hier. Außer zu den Simulationen. Karen brachte ihn selbst in einem Rollstuhl dorthin. 

Noch immer hat er den dicken Verband um den Kopf und seine Gesichtsfarbe ist noch nicht ganz gesund aussehend. Allerdings scheint es ihm im Moment gut zu gehen. Ich betrete den  Raum und sehe, wie er eine Schale Pudding von Maddie abzweigt und es breit grinsend in sich reinschaufelt.

"Na, alles klar?", frage ich sie. Es kommt ein Brummen zurück. Das klang ja überzeugend. Ich sehe Feretti an, er hat ein geschwollenes Auge. Auch seine Wange ist rot und ein blutiger Kratzer erstreckt sich darüber.

"Was ist denn mit dir passiert?", frage ich ihn. Ich hatte ihn kaum beachtet, als er vor mir das Zimmer verlassen hatte. 

"Eric hat mich so sauer gemacht. Ich bin wachgeworden und er lag fast auf dem Boden, so hat er gelacht. Da bin ich ausgerastet und hab mich auf ihn gestürzt.", erklärt mir Feretti. Ich sehe ihn erschrocken an.

"Nicht dein Ernst.", gebe ich zurück. Er zuckt mit den Schultern.

"Der Typ ist nicht normal. Ich bin durch den halben Raum geflogen.", sagt er und ich erinnere mich daran, so etwas wie ein Rumpeln gehört zu haben, als Feretti bei seiner Simulation war. Ich war allerdings viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken.

"Wieso provozierst du ihn auch so?", will Carter kopfschüttelnd wissen. 

Ich lache kurz.

"Man merkt, dass du noch nicht das Vergnügen hattest. Bei Eric gibt es nur zwei Dinge nach der Simulation. Entweder schaut er dich an, als wärst du der größte Versager der Welt, oder er lacht dich aus.", sage ich. Feretti nickt zustimmend.

"Four ist sehr nett. Er gibt uns danach immer Schokolade und lässt uns kurz ausruhen.", sagt Tessa. Feretti schnaubt abwertend. Anscheinend hat er so eine nette Geste nicht erfahren. Ich wundere mich kurz, lasse es aber, die Sache anzusprechen.

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Als wir am Abend in unseren Schlafsaal kommen, kann ich es gar nicht abwarten duschen zu gehen und mich ins Bett fallen zu lassen. Ich schnappe mir ein Handtuch und laufe ins Badezimmer. Ich dusche schnell, denn außer mir ist scheinbar der ganze Schlafsaal auf die Idee gekommen.

Maddie kämmt schon ihre Haare, als ich wieder in den Schlafsaal komme. Ich setzte mich auf mein Bett. Dann schnelle ich wieder hoch. Ich habe mich auf irgendetwas Hartes gesetzt. Erst denke ich an einen gemeinen Streich, doch als ich die Decke vorsichtig hochhebe, sehe ich ein Buch. 

Verwirrt sehe ich zu Maddie, die gerade mit einer verknoteten Haarsträhne kämpft. Ich nehme mein Handtuch vom Kopf, schnappe das Buch heimlich und wickle es in das Tuch. Dann laufe ich so schnell und gleichzeitig unauffällig wie möglich ins Badezimmer. Aus den Duschen dringt Dampf, doch sonst ist niemand außerhalb davon. Ich verschanze mich in einer Ecke, packe das Buch aus und schaue es neugierig an.

Es ist ein Kinderbuch. Ein Kinderbuch zum Lesen lernen. Verwirrt drehe ich es in meiner Hand und schaue es genauer an. Wer hat mir das da hingelegt? Maddie oder Tessa? Das ging gar nicht. Keiner der Beiden weiß, dass ich nicht lesen kann. Genauer gesagt, weiß es niemand. Niemand außer- ich überlege - Nein, das kann nicht sein. 

Das würde er doch nicht machen. Nicht er. 
Carter, Shepherd oder Feretti. Ja. 
Aber ER? Niemals. 
Ich wickle das Buch wieder in mein Handtuch und gehe hinaus.

Ich gehe zu meinem Spint und lege es hinein, mein Handtuch hänge ich neben meinem Bett auf. Dann lege ich mich hin und schlafe ein.

Ich träume von Eric, der mir das Lesen beibringt. Es ist verwirrend.

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Am nächsten Morgen trotte ich langsam los, um mich auf den Weg zu Eric zu machen. Ich kann mir hundert bessere Sachen vorstellen, als mit ihm in einem Raum zu sein. Vor allem nachdem, wie er gestern reagiert hat. 

Das geheime Geschenk schiebe ich auf Tessa oder Maddie. Tessa kommt von den Ken, wahrscheinlich kann sie sich denken, dass ich nie gelernt habe zu lesen. 

Maddie kommt von den Altruan. Es gab wohl niemanden innerhalb einer Fraktion, der sich besser mit Fraktionslosen auskannte, als eine Altruan. Dass es ausgerechnet an diesem Tag aufgetaucht war, muss Zufall gewesen sein. 

Es kann einfach nicht Eric gewesen sein. 

Ich laufe extra langsam. Dann komme ich an. Carter sitzt da. Er wurde in einem Rollstuhl hergebracht, damit er sich nicht zu viel bewegen muss.

Ich finde es immer noch unmöglich, dass sie ihn antreten lassen. Er ist offensichtlich nicht in der Lage, in eine Simulation zu gehen. Aber er wollte es so. Er war sich sicher, die Ferox würden ihn rauswerfen, sollte er nicht an den Simulationen teilnehmen. 

Ich lasse mich neben ihn auf einen Stuhl fallen, sacke ein wenig zusammen und schließe die Augen.

"Ich wusste nicht, dass es tatsächlich möglich ist, unmotivierter als ich zu sein.", sagt er. Ich öffne die Augen. Mal wieder grinst er. 

Anscheinend sind Tessa und Maddie schon an der Reihe gewesen. Shepherd sitzt vor uns und wackelt nervös mit den Füßen.

Ich bin ein wenig froh, anscheinend nicht gleich zu Eric zu müssen. Für gewöhnlich kommt Shepherd immer vor mir dran. Die Tür geht auf und Four entlässt eine gebürtige Ferox. Ich versuche, mich an ihren Namen zu erinnern. Sie hat orangene Haare und auffallende Sommersprossen. Ich erwische mich dabei, wie ich sie innerlich Karotte nenne. 

Dann ist Carter an der Reihe. Karen schiebt ihn in Fours Zimmer. Mir ist, als würde er mir einen aufmunternden Blick zuwerfen. 

Ich schaue wieder zu Shepherd. Er scheint mit den Nerven völlig am Ende zu sein.

"Solange du nicht so waghalsig bist, wie Feretti, schaffst du es.", sage ich ihm grinsend. Ich erinnere ihn an den kleinen Kampf mit Eric. Vielleicht bessert es meine Laune ja etwas, wenn ich ein paar andere Leute aufmuntere. 

Shepherd schenkt mir ein müdes Lächeln. Das war wirklich sehr erfolgreich. 

Ich schaue über Shepherd. Direkt über seinem Kopf hängt eine Uhr. Ich beginne dem Sekundenzeiger zu folgen. Ich zähle mit. Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben, Acht.

Schließlich zähle ich 788 Sekunden. Das sind etwas mehr als dreizehn Minuten. Erics Tür öffnet sich und Feretti kommt heraus. Ich winke ihm und er winkt zurück. Er scheint die Simulationen immer recht gut wegzustecken. Zwar ist er immer ein bisschen blass um die Nase. Aber er hört nie auf zu lächeln. 

Eric ruft Shepherd hinein. Ich schaue auf seine Hände. Sie zittern stark. Ich verstand ja, dass man ein bisschen Angst hatte, aber das war grad schon ein bisschen übertrieben. 

Eric geht vor und lässt Shepherd die Tür allein schließen. Der ist ja wieder nett heute, schießt es mir durch den Kopf. 

Wieder starre ich auf die Uhr und beginne die Sekunden zu zählen. Ich will über nichts nachdenken. Weder über Eric, noch über das, was gleich kommen wird. Ich spüre jetzt schon wieder die Hitze auf meiner Haut. Ich bin gerade bei 246 Sekunden angekommen, da höre ich Tumult aus dem linken Zimmer. 

Mein Blick zuckt von der Uhr zur Tür. Es rumpelte laut, ich höre diskutierende Stimmen. Hatte sich Shepherd etwa mit Eric angelegt? Ich will mich wieder der Uhr widmen. Kurz ärgere ich mich, dass ich nun wieder von vorne zählen muss, als es einen lauten Knall gibt. Ich schrecke hoch. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die es gehört hat. Die Tür zum rechten Zimmer wird aufgerissen. Four kommt herausgestürmt. Ich sehe Karen und Carter. 

Carter hat die Augen geschlossen, anscheinend steckt er mitten in der Simulation. Karen sitzt vor dem Computer. Mein Blick wird gestört, als die Tür langsam wieder zufällt. 

Four läuft in der Zwischenzeit in Erics Raum. Jetzt schaue ich dorthin. Ich rapple mich etwas auf, um besser sehen zu können. 

Ich sehe Four, wie er Eric festhält. Shepherd steht an der rechten Wand. Er sieht aus, als wolle er darin verschwinden. Mein Blick fällt neben den metallischen Stuhl. Der Computer liegt auf dem Boden. Das Glas des Monitors ist gesprungen. Rauch steigt aus dem Gerät.

Ich fasse es nicht. Shepherd hat nicht tatsächlich den Computer runtergeworfen. 

Four will wissen, was passiert ist. Eric sagt, Shepherd weigert sich, sich das Serum geben zu lassen. Natürlich hat Eric sich das nicht sagen lassen. Das Ende vom Lied war, das Shepherd voller Wut den Computer genommen und ihn auf den Boden geworfen hat. 

Eric kocht vor Wut. Ich bin mir sicher, dass er Shepherd am liebsten eine reinhauen will. Wenn nicht sogar schlimmer. Gut, dass er keine Waffen bei sich trägt, fällt mir ein. Die letzten verbliebenen Drei im Vorraum - alles gebürtige Ferox - lauschen nun auch interessiert.

Eric kommt rausgestürmt. Schnell begebe ich mich in meine gelangweilte Position zurück und tue so, als wäre das alles überhaupt nicht spannend. Er sieht mich nicht einmal an, sondern..

Four schließt die Tür. Ich bin mir sicher, dass er mit Shepherd reden will.

Ich frage mich, was Shepherd in den Simulationen so schreckliches sieht, das er sich sogar so mit Eric anlegt. 

Die gebürtigen Ferox und ich tauschen vielsagende Blicke aus, als die Tür wieder aufgeht. Eric kommt, gefolgt von einem Mann, der einen neuen Monitor in den Armen trägt.
Sein Name ist Jeff. Ich kenne ihn von meinen Ausflügen in die Grube. Er ist recht klein und schmal. Er hat kurzgeschorenes Haar. Sein ganzer Körper ist tätowiert. Es beginnt bei seinem Hals, geht über seine Arme und endet erst an seinen Füßen. Ich sehe es, weil er seine Hosen immer ein Stück hochkrempelt.

Eric öffnet die Tür und stürmt wieder in den kleinen Raum.

"Raus hier!", blafft er Four und Shepherd an. Ich schaue zu Shepherd. Wieder einmal ist sein Gesicht knallrot. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und will offenbar kein Wort sagen. Er wartet erst gar nicht darauf, dass Four ihn entlässt. Schnellen Schrittes durchquert er beide Räume, dann schlägt er die Tür zum Vorraum zu und ist weg.

"Du kannst auch gehen.", sagt Eric zu Four. Er deutet zur Tür. Four lässt sich das offenbar nicht zweimal sagen. Er geht. 

Jeff stellt den Monitor an seinen Platz. Dann geht auch er.

"Beweg deinen Hintern, Parker!", ruft er mir zu. Na klasse. Ich habe heute aber auch wieder ein Pech. Innerlich verfluche ich Shepherd. Wieso musste er so etwas genau jetzt abziehen? Genau heute.

Schnell laufe ich ins Zimmer, schließe die Tür und setzte mich auf den metallischen Stuhl. Ich will das hier bloß schnell hinter mich bringen. Ehrlich gesagt, ist mir Eric gerade unheimlicher, als alles, was mein Gehirn so vorbereitet haben könnte.

Ich streiche meine Haare zur Seite und warte darauf, dass Eric mir das Serum gibt. Es piekst kurz, dann bin ich weg.

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Ich will ins Hauptquartier. Ich bin auf dem Dach des Feroxgebäudes. Ich will hinunterspringen, wie ich es schon an meinem ersten Tag hier gemacht habe. Doch als ich herunterschaue, sehe ich das Loch nicht. Das Dach ist noch intakt, nirgendwo scheint der Eingang zu sein. Ich drehe mich um und beginne das Dach abzulaufen. 

Ich kann keine Leitern finden. Ich laufe ein paar Runden, hoffend irgendetwas zu übersehen. Aber hier ist einfach nichts. Ich laufe zur Mitte des Daches und drehe mich um mich selbst. Dann sehe ich es. 

Ein Block steht dort. War der eben schon dort? Ich drehe mich um und gehe darauf zu. Es scheint ein gewöhnlicher Zementblock zu sein. Er ist etwas größer als ich, also schätze ich ihn auf etwa 1,80 Meter. Breit ist er etwa 1,50 Meter. Aber wieso steht hier ein Block aus Zement? 

Ich beginne um den Block herum zu laufen und sehe schließlich, dass es nicht nur ein Block aus Zement ist. Auf der gegenüberliegenden Seite hat er eine Tür aus Eisen. Links, etwa auf Hüfthöhe, ragt ein Knopf aus dem Beton. Ein kleiner, blinkender grüner Pfeil ist darauf. Ich drücke ihn. 

Die Türen öffnen sich, es gibt ein metallisches Klingeln. Es ist ein Aufzug. Unschlüssig bleibe ich stehen und mustere den kleinen Raum. Offenbar war das hier die einzige Möglichkeit ins Gebäude zu kommen. Noch einmal klingelt es. Als wolle der Aufzug mir sagen, dass ich einsteigen soll. 

Langsam setze ich einen Fuß vor den nächsten und betrete den Aufzug. Ich drehe mich mit dem Rücken zur Wand. Links von mir ist eine Anzeigetafel. Darauf sehe ich Zahlen von 1 bis 99. Wo muss ich hin?

Ich weiß es nicht. Ich überlege kurz und drücke dann unsicher die 1. Die Türen schließen sich. Wieder kommt das Klingeln, dann setzt er sich in Bewegung. Ich gehe noch einen Schritt zurück und lehne mich gegen die Wand. Den Kopf schräg legend, schaue ich auf die Anzeigetafel. 99, 98, 97, 96. Alles geht gut, bis wir bei 59 ankommen. 

Der Aufzug stockt mit einem Male. Es ruckelt kurz, dann scheint er still zu stehen. Ich sehe nach oben, auch wenn es nichts nützt. Mein Blick fällt auf die Anzeigetafel. Die Zahl von Etage 59 blinkt. Ich warte darauf, dass die Tür sich öffnet. Aber nichts bewegt sich.

Ich gehe nach vorne und drücke nochmal auf die Eins. Doch es tut sich nichts. Noch einmal drücke ich, dann noch einmal. Ich warte. Ich drücke wieder und wieder. Ich drücke mehrmals kurz hintereinander darauf.

"Komm schon!", sage ich. Der Aufzug bewegt sich nicht. Nun versuche ich eine andere beliebige Zahl, dann wieder eine andere. Ich drücke so viele Zahlen hintereinander, dass ich den Überblick verliere. Ich drücke die neun, als der Aufzug wieder ruckelt. Erst bin ich erschrocken, dann froh und dann jagt es mir einen Schauer den Rücken entlang. 

Der Aufzug ruckt nochmal heftiger, dann bewegt er sich wieder. Aber er bewegt sich viel zu schnell. Das kann ich spüren. Ich weiß nicht, wieso ich es weiß. Ich bin vorher noch nie in einem Aufzug gewesen. Doch ich weiß es einfach. Er sollte langsamer sein. 

Hilfesuchend suche ich die Konsole nach einem Halteknopf oder so etwas ab. Aber da ist nichts.

Ich sehe die Zahlen rasend schnell aufblinken. Mittlerweile sind wir in der 30ten Etage angekommen. Ich drücke nun auf alle Knöpfe, die ich mit meiner offenen Hand drücken kann. 

Mit einem Mal ruckt es so stark, dass ich auf den Boden falle. Das Licht fällt aus. Ich kann nichts mehr sehen. Die Anzeigetafel leuchtet auch nicht mehr. Der Fahrstuhl steckt offenbar erneut fest.

Oh nein, was habe ich angestellt, fährt es mir durch den Kopf. Ich stehe auf und taste mich zu der Konsole. Nicht, dass ich wagen würde, noch einmal wild darauf rumzudrücken. 

Ich kann absolut nichts erkennen. Die Dunkelheit ist allgegenwertig. Sie sehe nach oben und warte darauf, dass die Lichter wieder angehen. Doch es bleibt schwarz. Ich beginne meine Taschen zu durchsuchen. 

Ein Feuerzeug. Ich nehme es heraus und mache es an. Die Flamme spendet genug Licht, damit ich etwas sehen kann. Ich gehe zur Konsole. Sie scheint tatsächlich tot zu sein. Ich sehe mich an den Wänden um, aber auch hier kann ich nichts entdecken, was mir helfen könnte.

Ich beginne nun zu rufen. Ich bin nicht sicher, ob mich jemand hört. Doch ich muss es wenigstens versuchen. Ich rufe laut um Hilfe. Ich horche an den Eisenwänden, ob ich irgendein Geräusch ausmachen kann. Aber es ist still.

Ich rufe weiter. Erst laut, dann werde ich eine Weile leiser, dann wieder lauter. Ich weiß nicht, wie lange ich mittlerweile hier stehe. Ich rufe weiter.

Irgendjemandem muss mein Verschwinden doch aufgefallen sein. Ich war bisher immer pünktlich. Sie werden wissen, dass etwas passiert ist. Vielleicht haben sie auf ihren Monitoren längst gesehen, dass der Fahrstuhl ausgefallen ist. 

Ich beginne mich, bewaffnet mit meinem Feuerzeug, nach so etwas wie einer kleinen Kamera umzusehen. Nach etwa zehn Minuten gebe ich die Suche auf. Hier ist nichts.

Ich rufe wieder. Ich rufe sämtliche Namen, die mir einfallen. Außerdem schwöre ich mir, ab jetzt immer ein Funkgerät mitzunehmen.

Erschöpfung schleicht sich langsam in meinen Körper. Ich habe keine Uhr bei mir. Das ist das Nächste, was auf meine Liste kommt. Eine Uhr.

Ich rufe noch eine Weile, aber nach geschätzten dreißig Minuten setzte ich mich erschöpft auf den Boden. Ich beginne wieder in meinen Taschen zu kramen. Ich finde einen Schokoriegel. Ich packe ihn aus und lege ihn in eine Ecke. Essen will ich ihn noch nicht.

Dann lehne ich mich gegen eine Wand und schließe die Augen. Ich bin zuversichtlich, dass man schon auf der Suche nach mir ist.

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Ich werde von meinem eigenen Magenknurren geweckt. Erst weiß ich nicht, wo ich bin. Alles um mich herum ist schwarz, dann fällt es mir wieder ein. Ich suche mein Feuerzeug, das ich auf den Boden gelegt habe und mache es an. Ich frage mich wie lange ich geschlafen habe, während ich die Verpackung des Schokoriegels aufmache. 

Ich breche ein Stück ab und esse es. Den Rest will ich aufheben. Ich stehe auf und beginne wieder zu rufen. Das mache ich eine ganze Weile, bis ich fast keine Stimme mehr habe. 

Irgendetwas in mir fragt sich, wieso sie mich noch nicht gefunden haben. Was, wenn sie gar nicht nach mir suchen? Was, wenn ich noch länger hier verharren musste?

Ich habe nichts zu trinken. Lange würde ich das nicht mehr aushalten. Wie aufs Stichwort bekomme ich Durst. Ein schönes kühles Wasser wäre jetzt genau das Richtige.

Mal wieder begebe ich mich zu der Konsole und besehe sie genau. Ob ich es riskieren kann, nochmal einen Knopf zu drücken?

Ich mache die Augen zu und drücke wahllos auf einen Knopf. Dann reißt es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich höre ein schrammendes Geräusch, als der Fahrstuhl abstürzt. Ja, ich bin sicher, er stürzt ab.

Das Quietschen geht mir in Mark und Knochen. Ich rufe laut nach Hilfe und drücke unbeholfen an der Konsole herum. Das Licht geht flackernd an und aus. 

Ich kann mich nirgends festhalten.

Ich spüre, wie mein Herz mir fast aus der Brust springt. Dann stoppt der Fahrstuhl mit einem Mal mitten im Fall. Wieder reißt es mich um. Das Licht ist wieder weg.

Ich fühle, wie mir der Schweiß ausbricht und ich zu zittern beginne. Das war gefährlicher, als ich gedacht habe. Ich traue mich gar nicht mehr aufzustehen. Ich ziehe mich zur Wand und lehne mich dagegen. 

Die Enge macht mir plötzlich zu schaffen. Auch, wenn ich nicht sehen kann, wie klein der Raum ist. Der bloße Gedanken daran, lässt meinen Mund ganz trocken werden. Ich habe solchen Durst.

Das beklemmende Gefühl, dass ich hier vielleicht nicht wieder lebend rauskomme, macht sich in mir breit. Ein seltsamer Druck entfaltet sich in meiner Brust, ich kann kaum noch atmen.

Mein Herz schlägt nun immer schneller und unregelmäßiger. Ich fühle geradezu, wie es aussetzt. Alles in meinem Kopf beginnt sich zu drehen.

Ich muss hier irgendwie raus. Ich kann nicht einfach hier sitzenbleiben und darauf hoffen, dass mich jemand rettet. Mit zitternden Händen suche ich den Boden nach dem Feuerzeug ab. Nach einer Weile finde ich es. Ich bekomme es kaum an. 

Ich muss mich beruhigen. Ich versuche tief einzuatmen, dann wieder auszuatmen. Es klappt, meine Hände werden ruhiger. Noch einmal versuche ich das Feuerzeug anzumachen und es sticht eine kleine Flamme hervor.

Ich stehe auf und beginne noch einmal die Wände zu inspizieren. Ich kann nichts sehen. Dann sehe ich an die Decke. 

Es dauert einen Moment, bis ich die kleinen Schrauben und Muttern an der Decke erkenne. Vier Stück an der Zahl.

Ich weiß nicht genau, wozu es führen soll, doch in meiner Tasche suche ich nun nach irgendetwas Spitzem. Möglicherweise eine Haarspange oder so etwas. Ich finde etwas Besseres. Ein kleines Messer. Ich kann mich nicht erinnern, es eingesteckt zu haben. 

Ich sehe nach oben, stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche mich an der ersten Schraube. Es dauert nicht lange, dann habe ich sie herausgedreht. Dasselbe tue ich mit den anderen drei Schrauben.

Nachdem ich fertig bin, lasse ich die Schrauben in meine Tasche gleiten und drücke gegen das Metall an der Decke. Es lässt nach und lässt sich herausdrücken. Ich schiebe es zur Seite und überlege, wie es weitergehen soll.

Oben kann ich nichts erkennen. Dennoch bleibt mir kein anderer Ausweg. Ich springe nach oben und hangle mich hinauf. Ich passe gerade so durch das kleine Quadrat. Oben angekommen, hole ich wieder mein Feuerzeug hervor. Ich leuchte um mich herum. 

Ich bin in einem Schacht. Mir wird heiß und kalt zugleich. In meinem Magen kribbelt es unangenehm. Wenn der Aufzug nun abstürzt, geht es mir durch den Sinn. 

Ich rutsche auf meinen Knien ein Stück nach vorne und beleuchte die Wand vor mir. Zwei Stangen sind parallel nebeneinander angelegt. 

Zwischen die Stangen passt genau der Aufzug.

Ich wage es, mich ein bisschen zu erheben und höher zu leuchten. Etwa einen Meter über mir hängt so etwas wie ein Gewicht. Es ist an jedem Ende, in die zwei parallel zueinander liegenden Stangen, eingefasst. In der Mitte ist nochmal eine Extra Stange an dem Gewicht. Sie verläuft bis zum Aufzug.

Nun leuchte ich nach rechts und ich denke, ich sehe nicht richtig. Es sind kleine Trittstangen in die Wand eingefasst. Jede Stange liegt nur etwa 10 cm voneinander entfernt. Sie führen an die Oberfläche. 

Ich leuchte soweit es geht nach oben, um mir einen Überblick zu verschaffen. Dann verstaue ich das Feuerzeug wieder, stehe langsam auf und greife nach der ersten Stange, die ich zu fassen bekomme.

Mit meinen Füßen steige ich auf eine Stange. Behutsam klettere ich von einer Trittstange zur Nächsten. Ich weiß nicht, wie weit ich nun nach oben muss.

Ich kann nichts erkennen, aber ich kraxle unbeirrt weiter. Ich beginne zu zählen. Ich klettere und klettere. Nach einer Weile wünsche ich mir, ich hätte den Schokoriegel mitgenommen. 

Ich spüre die Kraft aus meinen Armen weichen. Immer wieder muss ich kurz Pause machen. Ich schaue hinunter und sehe nur Dunkelheit. Dann klettere ich weiter. 5493 Stufen habe ich schon geschafft. Ich bin durchgeschwitzt, bis auf die Jacke. Ich ziehe sie aus und lasse sie achtlos in den Schacht fallen, dann klettere ich weiter.

Nach 9603 Stufen sehe ich plötzlich Licht. Ich spüre einen Windzug. 

Es ist nicht mehr weit. Ich klettere nun schneller und endlich. Nach 11721 Stufen sehe ich den Rand des Schachtes. Ich erklimme die wenigen kommenden Stufen, dann ziehe ich mich über den Rand und lasse mich völlig erschöpft auf den Boden des Daches fallen. 

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Ich wache fast schon erholt auf. 

"Was denkst du, wie lang du weg warst?", fragt mich Eric. Gerade noch schreibt er etwas auf, dann dreht er sich zu mir um. 

Ich weiß, dass ich die Zeit in den Simulationen nicht als echt ansehen kann. 

"Knapp eine Stunde?", vermute ich. Es kommt mir realistisch vor. 

"Neun Minuten.", sagt Eric nun. Ich schnappe nach Luft. 
Nur neun Minuten? Das war neuer Rekord für mich.

"Es hat sich so viel länger angefühlt.", erwidere ich. Eric nickt. Ich vergesse, dass er an der Simulation teilnimmt. 
Er hatte genauso viel Zeit da drin verbracht, wie ich.

"Ich habe gar keine Angst vor Aufzügen. Zumindest nicht bis eben.", erzähle ich ihm.

"Es ging auch nicht um den Aufzug. Es ging darum, die Initiative zu ergreifen und dich aus einer misslichen Lage zu befreien. Und das hast du gemacht. Du hättest auch sitzen bleiben können. Dann wärst du entweder irgendwann erstickt, verdurstet oder verhungert. Oder du hättest versucht, etwas an der Anzeigetafel zu basteln und der Fahrstuhl wäre abgestürzt. Dann wäre die Simulation auch beendet gewesen.", sagt er nun. Wieder stellt er mir ein Glas Wasser hin.

"Also war alles ok?", will ich wissen. 

"Die Simulation war anders, als was ich sonst so sehe. Normalerweise stolpern die Leute gleich in eine brenzliche Situation. Bei dir hat es etwas gedauert. Die Gefahr hat sich gesteigert. Was nicht bedeutet, dass ich so etwas nicht schon einmal gesehen habe. Es kommt ab und an mal vor."

Ich nicke. Alles war in Ordnung. Mir fällt nichts mehr ein. Außer die Sache mit Shepherd und darauf will ich ihn nicht ansprechen. Wenn ich ehrlich war, wollte ich schnell abhauen und mich verziehen.

Als würde er meine Gedanken lesen, entlässt er mich.

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Wieder sehr lang, ich weiß. Aber nun habt ihr es ja überstanden :D

Einmal Fraktionslos, Immer Fraktionslos - Die BestimmungWhere stories live. Discover now