35. Kapitel

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Ich lasse Claire los, als ob ich mich an ihr verbrannt hätte. 

Die Bedeutung ihrer Worte macht mich fassungslos. Mein Gehirn ist wie leer gefegt, ich weiß nicht, wie ich mit dieser Information umgehen soll. 

Mechanisch bringe ich etwas mehr Abstand zwischen uns und lasse mich kraftlos auf meinen Stuhl fallen. Meine Gedanken überschlagen sich, aber mir will die Bedeutung dieser Worte doch nicht bewusst werden. Nein, das kann nicht sein. Nicht meine Frau, für die ich alles tun würde, mit meinem verfluchten Bruder! 

Wütend und verzweifelt zugleich, schlage ich mit der Faust auf die Tischplatte. Claire zuckt in meinem Augenwinkel zusammen. 
»Bitte lass es mich erklären!« Sie fleht mich an, aber ich höre sie fast gar nicht. Das Rauschen in meinen Ohren ist viel lauter, es überlagert alles andere.

Ich kneife meine Augen zusammen, um die schwarzen Punkte aus meinem Sichtfeld zu vertreiben. Ich spüre, wie Claire ihre klammen Finger auf meine zur Faust geballten Hand legt. Reflexartig will ich sie zurückziehen, aber sie hält meine Hand unerbittlich fest, so wie ich gerade noch ihre.

Hilflos blicke ich zu ihr hoch, da ich absolut keine Ahnung habe, was ich nun machen soll. Claire hockt sich verzweifelt vor mich hin.

»Es war dumm gewesen, ein einmaliger Fehler. Ich würde es nie wieder tun«, flüstert sie und sieht mich dabei eindringlich an. »Du bist mir so wichtig, das glaubst du gar nicht. Ich wollte dich nicht verletzen...ich wollte...dir nicht die Erinnerungen an uns zerstören, du sollst an die schönen Dinge zurückdenken, die wir hatten und nicht daran... Gerade an diesem Tag wollte ich es dir ersparen. Natürlich hattest du ein Recht darauf, es zu erfahren...aber jetzt konnte ich es dir einfach nicht mehr sagen...bitte versteh das. Oder versuch es zumindest...Ich konnte es dir nicht sagen...und durfte auch nicht...«

Irritiert blinzle ich sie an. Mich ärgert es, dass sie so gute Argumente bringt. Ich weiß insgeheim, dass sie Recht hat. Dieser Ausrutscher ist schon sehr lange her und holt sie nun ein. Seitdem haben sich viele Dinge geändert und ich glaube ihr, dass sie es nie wieder tun würde. Und vielleicht bin ich auch einfach nur dumm, da ich bereits anfange, ihr zu verzeihen.

Mir bleibt aber auch nicht viel Zeit, um sauer auf sie zu sein. Ich möchte im Guten mit ihr auseinandergehen und nicht zerstritten. Mir bleibt quasi keine andere Wahl.

»Wieso durftest du nicht?« Meine Stimme hört sich blechern und fremd an. Claire presst ihre Lippen zusammen. »Dein Bruder...er hat mich erpresst... Wenn ich die Wahrheit über die Mordnacht sage, sagt er dir, dass ich fremdgegangen bin.«

Fassungslos blicke ich sie an. Wie konnte ich mich all die Jahre lang nur so in meinem Bruder täuschen? Ich habe ihn immer verteidigt, nun fällt er mir in den Rücken und erpresst sogar meine Familie? 

Er sorgt dafür, dass sie mich anlügen müssen, damit er nicht als Mörder entlarvt wird? 

Diese ganze Situation ist so skurril, dass ich kurz überlege, ob es ein schlechter Traum ist. Aber es ist die Realität, so brutal kann kein einziger Traum sein. Und so kreativ wäre mein eigenes Unterbewusstsein nicht, um sich so etwas auszudenken. Es kann also nur die Wahrheit sein. 

»Ich weiß, wie das für dich klingen muss.« Claire seufzt, aber ich bin mittlerweile bereits ein paar Gedanken weiter. Angestrengt schiebe ich die ganzen negativen Aspekte an die Seite und betrachte diesen Horror, den sie mir gerade entblößt hat, als meine neue Chance.

»Claire...nun weiß ich es«, sage ich langsam und sie nickt traurig. Dann scheint es bei ihr Klick zu machen und sie reißt ihre Augen auf. Geschockt schlägt sie sich ihre Hand vor den Mund, als sie versteht, was sich ihr nun für neue Möglichkeiten bieten. 

Sentenced - The last dayWhere stories live. Discover now