30. Kapitel

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Am Ende des langen Ganges sehe ich die zwei nebeneinanderliegenden Türen.

Ich schlucke, weil ich genau weiß, was mich dahinter erwartet. Hinter der einen befindet sich die Liege, auf der ich gleich wieder festgeschnallt und umgebracht werde. Und hinter der anderen Tür sitzt meine Familie und kann mir durch eine Glasscheibe beim Sterben zusehen. 

Der Direktor des Gefängnisses steht vor der linken Tür, während meine Anwältin vor der rechten steht. Vor Aufregung beschleunigt sich mein Herzschlag. Vielleicht habe ich mir die ganzen Gedanken umsonst gemacht. Egal, ob Sadie etwas mit meiner Auferstehung zu tun hat oder nicht, vielleicht hat Marina mit den neuen Hinweisen eine Verschiebung der Hinrichtung bewirken können. 

Mit jedem weiteren Meter, den wir uns den beiden nähern, steigert sich meine Hoffnung. Sie hält einen Zettel in der Hand. Das muss der richterliche Beschluss sein, auf den wir beide so lange gewartet haben.

Ich habe mich zu sehr in alles hineingesteigert, die Lösung war so banal gewesen.

Es gibt keine Ärzte, die Wunder vollbringen können und gegen die Zeit arbeiten. Es gibt auch keine höhere Macht, die einen Menschen zurück ins Leben schickt. 
Es gab nur einen Traum, der sich ganz so wie dieser Tag angefühlt hat.

Und die Lösung ist einfach, dass der Richter zur Vernunft gekommen ist und diesen Fall erneut aufrollt und ordentlich aufklärt. Genau so muss es sein. 

Während ich mir euphorisch diese Gedanken zurechtlege, werde ich automatisch langsamer, als ich den Gesichtsausdruck von Marina bemerke. Sie hält den Zettel fest umklammert, aber ihre Augen sind abgestumpft, ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. 

Sie hat keine guten Neuigkeiten für mich. 

Dieser Gedanke fühlt sich wie ein dumpfer Schlag in die Magengrube an. Kurz vor ihr angekommen, bleiben wir stehen und ich sehe sie fragend an. »Was hat ihm gefehlt?«, frage ich nach und ärgere mich darüber, dass meine Stimme noch immer so verwaschen und langsam klingt. Marina runzelt deswegen kurz ihre Stirn und überlegt wahrscheinlich, ob ich in ihrer Abwesenheit einen Schlaganfall hatte. Dabei war es nur eine beschissene Tablette gewesen, von der sie aber nichts weiß. 

Sie fängt sich schnell wieder und blickt mir fester in die Augen. »Eine Aussage deines Bruders. Er verweigert es, auszusagen. Und es hat ihn auch niemand am Tatort gesehen. Für den Richter sind es nur wilde Spekulationen von uns.« 

Entmutigt atme ich tief durch die Nase ein. »Und was ist mit der Aussage von Liv?« 

Traurig schüttelt Marina mit dem Kopf. »Das war ihm zu wenig. Immerhin war sie nur vor der eigentlichen Tat dort gewesen. Wenn sie etwas gesehen hätte, wäre es etwas anderes gewesen. Aber so...« Entschuldigend zuckt sie mit den Schultern, dann sammeln sich Tränen in ihren Augen. »Es tut mir so leid. Ich dachte wirklich, ich könnte dein Leben retten und deine Unschuld beweisen. Vielleicht...hättest du dir einen anderen Anwalt suchen sollen«, bricht es aus ihr heraus. 

Liebend gerne hätte ich sie in den Arm genommen und sie beruhigt, ihr gesagt, dass ich keine bessere Anwältin als sie hätte haben können. Aber daran hindern mich die Handschellen, welche meine Arme auf dem Rücken fixiert halten und der strenge Blick des Direktors auf seine Armbanduhr. 

Scheinbar muss er noch zu einer wichtigen Besprechung und diese Hinrichtung schnell hinter sich bringen. 

Ich presse meine Lippen zusammen und schüttle leicht mit dem Kopf. »Nein, du warst perfekt«, schaffe ich noch zu sagen, bevor ich in den Raum geschoben werde. Ich hasse diese ungeduldigen Wärter. Als ob sie nicht eine Minute mehr Zeit haben, um mir die Chance zu geben, dieses Gespräch ordentlich zu beenden. 

Sentenced - The last dayWhere stories live. Discover now