27. Kapitel

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»Steve?« Marinas Stimme reißt mich aus meinen düsteren Gedanken.

Ich fühle mich verraten und benutzt, erneut von meiner Familie so sehr betrogen, dass ich nichts anderes als Hass für sie empfinde. Dieses Gefühl tut weh, aber es sorgt auch dafür, dass ich die deprimierenden Gedanken an die Seite schiebe. Wenn sie denken, dass sie mich benutzen können, um selbst nicht entdeckt zu werden, dann haben sie sich getäuscht. 

Das werde ich nicht nochmal mit mir machen lassen. Dieses Mal werde ich kämpfen. Und zwar nicht für sie, sondern gegen sie. Ich will gegen sie gewinnen und ihnen das zurückzahlen, was sie mir angetan haben. 

Das klingt gemein, aber es fühlt sich in dieser Situation einfach nur gut an. Es beflügelt meine Gedanken und steigert die Motivation, endlich die gesamte Wahrheit zu erfahren.

»Das können wir noch nicht erklären«, antworte ich mit einem Blick auf die amputierten Finger, während sich meine Gedanken weiterhin überschlagen. Wenn Luke mit der Stange zugeschlagen hat, wird er nicht gleichzeitig die Finger abgerissen haben. Das macht keinen Sinn und passt nicht zu dem Ausdruck roher Gewalt, den diese Eisenstange darstellt.

Marina pappt einen weiteren Klebezettel auf das Bild mit den Fingern und legt es auf die gegenüberliegende Seite des Tisches. Darauf schreibt sie »Mörder Nummer 2?« und ich runzelte leicht meine Stirn. Dann fällt mir ihre Theorie ein, dass diese Tat von zwei verschiedenen Personen begangen wurde. Und jetzt, da wir wissen, wer hinter der ersten Person steckt, macht diese Theorie auf einmal noch viel mehr Sinn. 

Denn Luke kann mit groben Gegenständen umgehen, aber auf so Kleinigkeiten wie die Finger, wäre er gar nicht gekommen oder hätte darauf keinen Wert gelegt. Für die Finger muss jemand anderes verantwortlich sein. Nur wer?

»Liv?«, fragt Marina mit einem Blick auf die Finger und sieht mich fragend an. Sofort schüttle ich mit dem Kopf. »Nein, das würde sie nicht tun.« In der nächsten Sekunde ärgere ich mich darüber, dass ich meine Familie immer noch aus Reflex verteidige.

Dabei habe ich mir doch gerade erst geschworen, es nicht mehr zu tun. Aber da ich es mein ganzes Leben lang getan habe, ist es schwer, von jetzt auf gleich damit aufzuhören. Es steckt so tief in mir drin, dass es zu einem einstudierten Verhaltensmuster geworden ist. 

Nachdenklich fange ich an, an meinem Daumen herumzukauen, in der Hoffnung, so meine Denkleistung wieder zu fördern. Wer könnte das mit den Fingern gewesen sein? Außer Liv und Luke war niemand am Tatort.

Und Liv traue ich es wirklich nicht zu, diesem Mann die Finger abgetrennt zu haben. Sie ist so dünn und zart, zu solch einer Tat wäre sie körperlich gar nicht in der Lage. Davon bin ich überzeugt, egal wie ich gerade zu ihr stehe.

Marina seufzt leicht. »Okay, wir wissen es nicht«, schließt sie daraus und wühlt sich durch ihre weiteren Unterlagen. »Und wir haben noch etwas vergessen...uns fehlt nicht nur eine Person, sondern wahrscheinlich zwei.« Sie blickt mich fast schon entschuldigend an. »Jemand muss den Notruf gewählt haben. Kurz nach der Tat, da die Rettungskräfte und auch die Polizei ja ein paar Minuten brauchen, um zum Tatort zu gelangen.

Es muss also eine Person gewesen sein, die davon wusste. Da würde Liv in Frage kommen, weil sie Luke von der Anwesenheit Jasons in der Gasse erzählt hat. Sollte sie es gewesen sein, die den Notruf gewählt hat, bedeutet es wiederum, dass sie auch davon wusste, was Luke getan hat oder tun würde. Sie verheimlicht noch etwas, auch weil sie wahrscheinlich länger am Tatort war, als sie gerade zugegeben hat. 

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Luke den Notruf selbst gewählt hat. Durch die Handschuhe, die er bei den Schlägen mit der Eisenstange getragen haben muss, gehen wir davon aus, dass es eine geplante Tat gewesen ist. Aber durch den Notruf könnte es zeigen, dass er es im Nachhinein bereut hat und Burne doch noch retten wollte...

Sentenced - The last dayWhere stories live. Discover now