20. Kapitel

172 51 31
                                    

Mit starrem Blick fixiere ich die Tür des Besucherzimmers vor mir, die sich unwiderruflich hinter Claire geschlossen hat. Kraftlos sitze ich auf dem Stuhl, auf dem sie noch einige Minuten vorher gesessen hat und warte darauf, dass sie meinen nächsten Besuch zu mir hereinlassen. Liv.

Ich stehe diesem Besuch mit gemischten Gefühlen gegenüber. Denn einerseits freue ich mich darauf, sie nochmal zu sehen. Sie schaffte es nicht, zu meiner Hinrichtung zu kommen, was ich auch verstehen konnte. Aber ich habe sie dennoch dabei vermisst. Ich bin ein verdammter Egoist. 

Und auf der anderen Seite hasse ich mich jetzt schon für die Fragen, die ich ihr gleich stellen muss. Liv überfordert diese ganze Situation, das weiß ich. Und ich werde sie mit meinem Misstrauen nur noch weiter verschrecken, noch schneller und endgültiger von mir stoßen. 

Claires Aussage, dass Liv etwas über den ganzen Vorfall weiß, ist eine Erklärung dafür, warum sie in den letzten Jahren so selten hier erschienen ist. Und auch, warum sie sich so vor mir verschlossen hat. Bei den wenigen Besuchen redeten wir nur Smalltalk, ohne in die Tiefe zu gehen. Das tat sie aus Schuldgefühlen, deswegen zog sie sich immer weiter von mir zurück. Und auch deswegen hatte sie sich bei ihrem letzten Besuch bei mir entschuldigt. Dafür, mir nicht die Wahrheit gesagt zu haben, dafür zu wissen, dass ich unschuldig mein Leben hergab. Natürlich konnte sie sich das nicht mitansehen. Aber sie hat es auch nicht versucht, zu verhindern. Also muss sie da tiefer drinstecken, als ich denke. Und vielleicht auch tiefer, als selbst Claire weiß. 

Denn ansonsten hätte Liv es in der Hand, mich zu retten. Aber das hat sie nicht getan. Sie hat mich sterben gelassen, sie hat mich geopfert, für wen auch immer. 

Ich glaube Claire, dass Liv nicht die Mörderin ist. Das habe ich ihr insgeheim nie wirklich zugetraut. Aber sie hat eindeutig etwas damit zu tun gehabt. Was mich wieder zu der Frage treibt, was genau sie damit zu tun hatte.

Entrüstet reiße ich meinen Blick von der Tür los, welche sich einfach nicht öffnen will. Habe ich das letzte Mal auch so lange auf den nächsten Besuch warten müssen? Ich weiß es nicht mehr. 

Mit jeder verstreichenden Minute, wird die Ungewissheit in mir größer. Auch wächst die Befürchtung, dass Liv gar nicht kommen wird. Was, wenn sie und Claire auf dem Flur miteinander geredet haben? Wenn Liv weiß, dass Claire etwas verraten hat? Traut sie sich deshalb nicht, nochmal mit mir zu reden? Schämt sie sich? Bereut sie es? 

Tausende Fragen schießen mir durch den Kopf, auf die ich keine Antwort finde. Die Antwort weiß nur Liv allein. Und sie wird mir nicht alle mitteilen, das vermute ich. Aber vielleicht bekomme ich sie dazu, dass sie mir wenigstens die wichtigste Frage beantwortet. Sollte sie überhaupt kommen. 

Ungeduldig fange ich an, mit den Fingern auf der Tischplatte herum zu trommeln. Irgendwas in mir sagt mir, dass ich diese kostbaren Minuten auch anders nutzen könnte, anstatt hier dämlich zu sitzen und zu warten. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Oder kann. Schließlich bin ich hier drinnen eingesperrt, werde durch eine Kamera überwacht. 

Es bringt mir nichts, meine Gedanken weiter im Kreis zu drehen, denn ich komme nicht mehr weiter. Nicht ohne weitere Antworten über diese Nacht, die gesamten Zusammenhänge. 

Trotzdem fange ich insgeheim damit an, darüber nachzudenken, wen Liv wohl kannte. Sie hat niemals etwas von einem Jason Burne oder anderen Kerlen erzählt. Ich kneife meine Augen zusammen. Moment mal. Hat Liv nicht genau sowas bei ihrem letzten Besuch erzählt? Ich durchforste mein Gehirn und stehe wie elektrisiert von meinem Stuhl auf. 

Sie hat mir erzählt, dass sie immer Pech mit Kerlen hat und immer an die Falschen gerät. Vielleicht war Jason einer von diesen Kerlen. Er hat ihr etwas angetan und sie hat sich an ihm gerächt. Oder sich rächen lassen, da sie den Mord anscheinend nicht selbst ausgeführt hat. 

Sentenced - The last dayDär berättelser lever. Upptäck nu