Meine Gliedmaßen fangen vor Aufregung an zu kribbeln. Es ist das erste Mal, dass mir wirklich etwas logisch erscheint. Auf einmal passen die Puzzleteile zusammen, sie ergeben ein gesamtes Bild, sie beschrieben endlich die Vorgeschichte zu diesem Mord. Warum ist mir diese Aussage vorher nicht aufgefallen? Es war doch so offensichtlich gewesen.

Liv hat sich bei ihrem letzten Besuch hier bei mir verraten. Ich habe mich nur auf die falsche Aussage konzentriert. Nicht ihr "Es tut mir leid" war die Lösung, sondern das Gespräch vorher. 

Ich spüre, wie mein ganzer Körper vor Spannung und auch Erleichterung bebt. Ganz langsam mischt sich auch die Euphorie und Erleichterung darunter, weil ich nun wirklich eine Verbindung, ein Motiv habe. Ich habe etwas in der Hand, was meine Unschuld beweisen kann. 

Marina hat schon immer versucht, den Richter davon zu überzeugen, dass ich kein Motiv für diesen Mord gehabt habe. Aber ihr hat niemand geglaubt, sie haben es auf meine Unzurechnungsfähigkeit geschoben. Schließlich hätte ich jederzeit austicken können. Es hat also zufällig Jason Burne in dieser Gasse getroffen. 

Diese Version erschien für alle glaubhafter, als die Wahrheit. Und sie ist mir zum Verhängnis geworden. Langsam komme ich wieder auf dem Boden der Tatsachen an. Auch jetzt steht es nicht besser um mich. Ich habe nichts in der Hand, um diese Theorie beweisen zu können. 

Nur eine neue Idee, eine neue Vermutung, wird dem Richter nicht ausreichen, um diese Hinrichtung zu verschieben oder ganz abzusagen. Seine Entscheidung steht und daran hält er auch fest, das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen. 

Langsam lasse ich mich wieder zurück auf den Stuhl sinken. Ich muss es irgendwie beweisen können. Und ein Anfang dafür wäre eine Aussage von Liv. 

Erneut haftet sich mein Blick an die verschlossene Tür. Wo bleibt sie nur? Ich muss dringen mit ihr reden. Sie muss mir endlich die Wahrheit sagen. Wenn meine Idee, dass Jason ihr etwas angetan hat, wirklich stimmt, dann muss sie nicht viel befürchten. Theoretisch. Ich weiß es nicht, so gut kenne ich das Rechtssystem und die Gesetze nicht auswendig. Wäre es Totschlag? Oder Beihilfe zum Mord? Was ist dafür die Strafe? Lebenslange Haft? Oder ebenfalls die Todesstrafe? 

Nachdenklich nage ich an meinem Zeigefinger herum. Eine lästige Angewohnheit, die Claire mir jahrelang versucht hat, auszutreiben. Immer wenn ich es tat, bekam ich einen Klaps von ihr verpasst. Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich daran zurückdenke, als sie keine Hand frei hatte, sondern mit einem Kochlöffel zuschlug.

Ich saß am Küchentisch und habe mir die Unterlagen eines Kunden durchgelesen. Konzentriert wie ich war, wanderte mein Finger in meinen Mund. Claire rührte hinter mir eine Tomatensoße in einem Topf an und schlug mir verärgert mit dem Kochlöffel auf die Schulter. Dabei versaute sie mit der roten Soße nicht nur mein weißes Hemd, sondern auch die gesamten Unterlagen. 

Zuerst meckerte ich sie verärgert an, da diese Zettel wichtig waren. Anschließend schrie sie mich an, dass sie diese Flecken niemals wieder aus dem weißen Stoff herausbekommen würde. Nachdem wir unseren Frust abgelassen hatten, mussten wir beide über die ganze Situation lachen. 

Unsere Beziehung hatte wirklich ihre Höhen und Tiefen. Aktuell befindet sie sich aber auf dem schlimmsten Tiefpunkt, den wir uns je vorstellen konnten. Und irgendwie erscheint es immer auswegloser, dass wir nochmal den Weg daraus finden werden. 

Ein Schritt in die richtige Richtung, wäre definitiv das Erscheinen von Liv. 

Mittlerweile habe ich mich so stark in meinen eigenen Gedanken verrannt, dass ich vergessen habe, was ich sie überhaupt fragen wollte. 

Meine Zähne beißen fester in den Finger hinein, ich durchforste meine wirren Gedanken nach einer schlauen Lösung, einer Eingebung, die mir das Leben rettet. 
Aber alles steht und fällt damit, ob sich die Tür endlich öffnen wird. 

Also ändere ich meinen Plan, bevor ich mich noch verrückter mache. Ich schließe meine Augen und versuche, mich zu entspannen. Meine innere Uhr tickt und ich weiß, dass ich gerade Zeit verschwende. Aber ich muss meine Gedanken sortieren, sonst kann ich gar nicht weitermachen. 

Ich muss die neuen Erkenntnisse verarbeiten, weiter einsortieren und ordnen, damit ich die mir verbliebene Zeit so effektiv wie möglich nutzen kann. Ich muss jetzt irgendwie Vorarbeiten, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. 

Es fühlt sich grausam an, diese innere Zerrissenheit. Sie erinnert mich an das Gefühl des kämpfenden Herzen in meiner Brust. Durch die Medikamente war es gezwungen, seinem Dienst zu versagen, auch wenn es selbst noch nicht aufgegeben hatte. Diese krampfartigen Schläge, der Versuch, diesen Körper, den gesamten Organismus weiter am Leben zu halten. Und dann schließlich die Einsicht, dass es hoffnungslos ist. Wie die Schläge seltener, unregelmäßiger und kraftloser wurden. Mir bricht kalter Schweiß aus, als ich daran zurückdenke.

Gehetzt reiße ich meine Augen auf. Das darf nicht nochmal passieren. Ich muss die Brocken an Wissen, welche Claire mir hingeworfen hat, nun endlich verwandeln. Es bringt nichts, wenn sich diese Vermutungen, die Lösung des Rätsels, nur in meinem Kopf befindet. Dort hilft sie mir nicht.

Es gibt nur eine Person, die damit etwas anfangen kann, die nach einem Beweis suchen oder eine Aussage aus Liv herausbekommen kann, wenn ich es schon nicht hinbekomme. Marina.

Aber wie kann ich mit ihr reden? Ich weiß nicht, ob sie schon hier im Gebäude ist. Vielleicht kommt auch Liv noch. Obwohl...diese Hoffnung habe ich mittlerweile fast vollständig aufgegeben. Denn wenn sie wirklich kommen wollen würde, wäre sie bereits hier.

Also hat Claire mit ihr geredet und Liv weigert sich, mir weitere Fragen zu beantworten. Sie arbeitet weiter gegen mich. Dieser Gedanke führt dazu, dass ich erneut einen bitteren Geschmack im Mund bekomme.

Unbewusst will ich noch immer versuchen, auch ihre Unschuld zu beweisen und herauszufinden, wie sie dort hineingerutscht ist. Ich kann es einfach nicht akzeptieren, dass sie vielleicht die gesamte Schuld trägt. Ich will es nicht realisieren, ich sträube mich dagegen. Aber Liv tut auch nichts, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Sie opfert mich weiterhin, sie versucht nicht, mir zu helfen. Dabei gebe ich sie immer noch nicht auf. Ich bin geblendet, die Liebe, welche ich für sie empfinde, macht mich handlungsunfähig. 

Ich habe mir vor einigen Minuten geschworen, ab nun auf meinen Verstand zu hören. Jetzt ist der Moment gekommen, in dem ich dies tun muss. 

Entschlossen erhebe ich mich von meinem Stuhl. Trotzig, wie ein kleines Kind, laufe ich auf die Tür zu. Wenn ich Liv egal bin, kann sie mir ebenfalls egal sein. Wenn sie nur egoistisch an sich selbst denkt, kann ich das auch.

Ich werde nach Marina fragen und ihr von meinen Erkenntnissen berichten. Dann wird sie nach Beweisen suchen und es vielleicht rechtzeitig schaffen, welche zu finden. Sie wird endlich meine Unschuld beweisen können und ich muss heute nicht sterben. 

Ich hebe meine Hand, um von innen gegen die Tür zu klopfen, als sich diese direkt vor meiner Nase öffnet. 

Perplex blicke ich in die verweinten Augen von einer Person, mit der ich absolut nicht mehr gerechnet habe. Schluchzend wirft sie sich in meinen Arm. 

Überrumpelt kippe ich ein Stück nach hinten, finde aber mein Gleichgewicht schnell wieder. Am Rande nehme ich wahr, wie der Wärter monoton die 15 Minuten Zeit ankündigt, dann schließt er die Tür hinter meinem Besuch und mir. 

Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe, lege ich meine Arme zögerlich um den zitternden Körper meiner Tochter. Sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust und weint hemmungslos in mein Oberteil.

»Dad...Es tut mir so leid.«

Sentenced - The last dayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt