Meine Reaktion auf ihre Nähe macht mir gerade selbst Angst. Ich habe nicht damit gerechnet, so die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Immer bin ich davon ausgegangen, dass mein Verstand am Ende stärker ist. Aber das ist er nicht. Ich bin machtlos, kann nicht beeinflussen, wie ich reagiere. Ich habe diese ganze Situation unterschätzt. Erneut den gleichen Fehler begangen. So werde ich nie als Sieger gegen den Tod aus diesem unerbittlichen Kampf hervorgehen. 

Zitternd hole ich Luft, versuche mich zu konzentrieren. Am Rande meines Bewusstseins höre ich, wie Claire verzweifelt meinen Namen ruft. Aber ich kann ihr nicht antworten, meine Lippen bewegen sich nicht, auch wenn meine Zunge einige tonlose Laute formt. Ich fühle mich wie in einem Tunnel gefangen, nirgendwo erscheint ein Ausweg, ein Licht, welches mich aus dieser Dunkelheit zieht. 

Plötzlich höre ich einen lauten Knall, dann fängt meine linke Wange an zu brennen wie Feuer. Mein Kopf fliegt von dem unerwarteten Schlag zur Seite, der Schmerz lässt mich zusammenzucken. Blinzelnd starre ich meine Frau an, deren Hand in der Luft schwebt. Geschockt starrt sie auf ihre Hand, dann auf meine glühende Wange. Irritiert verfolge ich ihren Blick.

»Hast du...hast du mich wirklich gerade geschlagen?«, frage ich perplex und halte mir die schmerzende Wange. Claire lässt ihre Hand sinken, atmet dann aber tief durch und setzt sich mit dem Hintern ganz auf den Boden. »Ja...ich...wusste nicht, wie ich sonst noch an dich herankommen soll.« Schnell entschuldigt sie sich. »Du hast einfach nicht mehr reagiert.«

Langsam nickend nehme ich meine Hand von der Wange. Sie hat recht. Diese grausame Dunkelheit ist verschwunden, ich kann wieder klar sehen. Es ist wieder alles normal, ich habe die Kontrolle über meinen Körper und meine Gedanken wiedererhalten. 

»Danke«, sage ich ehrlich und stocke, als sich für einen kurzen Augenblick ein schelmisches Grinsen auf ihr Gesicht schleicht. Es war nur so kurz zu sehen, dass ich mich schon frage, ob ich es mir nur eingebildet habe. »Dafür musst du dich nicht bedanken...Ich wollte nur mal die Chance ergreifen, meinen Ehemann zu schlagen. Zu sowas hat man ja nicht oft die Chance.« Zaghaft grinst sie mich an. Unwillkürlich verziehen sich auch meine Lippen zu einem sanften Lächeln. 

Genau deshalb liebe ich diese Frau über alles. Sie schafft es, selbst solch ausweglose Situationen kurzzeitig aufzulockern. Ihre Augen schauen mich weiterhin traurig an, denn auch sie weiß, dass unsere gemeinsame Zeit unaufhaltsam weiter tickt und sich dem Ende neigt. 

Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren und frage mich, wie lange ich schon hier bei ihr bin. Waren es nur zwei Minuten? Oder doch schon mehr als zehn? Ich weiß es nicht. 

Dafür weiß ich aber, dass ich die restliche, verbliebene Zeit nutzen muss. Innerlich zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie ich zu meinem ursprünglichen Plan zurückkehren und sie fragen kann, wieso sie auf meinen Bruder sauer ist. Aber mir fällt kein guter Übergang ein, ich will diese Situation nicht zerstören. Dafür genieße ich diese lockere Stimmung zwischen uns gerade viel zu sehr. Denn genau diese habe ich seit Jahren vermisst. 

Selbst bei meiner ersten Verabschiedung von ihr, ist sie nicht entstanden. Aber ich spüre, dass sie sofort verschwinden wird, wenn ich diese eine Frage stellen werde. Alles in mir sträubt sich dagegen, es zu tun. Dabei weiß ich, dass ich es machen muss. 

Claire greift nach meinen Händen und überrascht mich damit erneut. Denn ich weiß noch sehr gut, wie sehr ich bei unserer letzten Verabschiedung darum kämpfen musste, dass sie sich von mir berühren ließ. Jetzt sucht sie freiwillig meine Nähe. Aber dieses Mal hat sie auch gesehen, wie es um mich steht. Bei dem ersten Mal habe ich anfangs versucht, stark zu bleiben. Das war anscheinend ein Fehler gewesen. Jetzt hat sie gesehen, wie zerbrochen ich selbst bin und kann anders damit umgehen. Denn nun ist sie nicht mehr die Einzige, die an dieser ganzen Situation kaputt geht.

»Warum bist du damals durch diese Straße gelaufen? Warum hast du nicht einfach ein Taxi genommen?«, bricht es dann auf einmal aus ihr heraus. »Dann wäre das alles nie passiert. Du hättest ihn nicht gefunden. Du wärst einfach nach Hause gekommen.« Vorwurfsvoll sieht sie mich an. Ihr ganzer Körper zittert, sie klammert sich an meinen Händen fest. »Dann würden wir jetzt nicht hier sitzen«, fügt sie flüsternd hinzu und weicht somit ein bisschen von dem ab, was sie mir schon einmal gesagt hat. Aber der Kontext ist der Gleiche geblieben. Und jetzt lässt er mich stutzen. 

Warum beschäftigt es sie so sehr, wie ich an diesem alles entscheidenden Abend nach Hause gekommen bin? Hat sie tatsächlich schon mehr gewusst? Wusste sie, dass in dieser kleinen Straße ein verletzter Mann liegen würde? Nein, das konnte sie nicht wissen. Oder?

»Ich wusste ja nicht, was ich dort vorfinden würde...«, sage ich langsam und sehe, wie sie merklich schluckt. 

Plötzlich fühlen sich ihre Hände seltsam steif zwischen meinen eigenen Fingern an. Ihr ganzer Körper ist angespannt, sie hat ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst und versucht, meinem Blick auszuweichen. Mich beschleicht dadurch immer mehr der Verdacht, dass sie wirklich mehr weiß, als sie zugibt. 

Kräftig beiße ich meinen Kiefer zusammen, sodass ich spüre, wie mein Muskel auf meiner Wange sichtbar hervortritt. Claire sieht es auch und ihr Gesicht verliert noch mehr an Farbe. 

»Claire.« Eindringlich sehe ich sie an. »Was weißt du?«, frage ich fast schon flehend, während meine Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Ich fühle mich von ihr betrogen. Ausgerechnet von der Frau, der ich immer vertraut habe. Die meine schlimmsten Albträume kennt, die weiß, wie ich an dem Tod unseres Sohnes zugrunde ging. Ausgerechnet sie ist mir jetzt in den Rücken gefallen. Sie spielt mit meinem Leben. 

Entweder nimmt sie das einfach in Kauf, akzeptiert, dass sie irgendjemand anderen schützt und opfert mich dafür. Oder aber es ist ihr gar nicht bewusst. Vielleicht trägt sie noch immer die Hoffnung in sich, dass Marina die Hinrichtung verschieben kann. Aber ich weiß, dass es ihr nicht gelingen wird. Über dieses Wissen verfügt Claire jedoch nicht. 

Sie war schon immer etwas naiv, hat in jedem Menschen nur das Gute gesehen. Konnte sich nie vorstellen, wie ein Mensch einem anderen Gewalt antun kann. Sie hat immer alles positiv gesehen, bis wir unseren Sohn tot in seinem Bett vorfanden. Das war der Moment, welcher sie zum Nachdenken gezwungen hatte. Also eigentlich läuft sie nun nicht mehr so blauäugig durch das Leben. Wieso also riskiert sie anscheinend bewusst, dass ich getötet werde? Wenn sie der Gedanke daran, ohne mich weiterleben zu müssen, schon zerbrechen lässt? 

Oder schützt sie eine bestimmte Person? Jemanden, der ihr wichtiger ist als ich? Da würde mir nur eine einzige Person einfallen, bei der ich es verstehen würde. Die die Wahl gewinnen würde, wenn ich gegen sie antreten müsste. 

Aber könnte ich eine Person, die ich liebe, bewusst opfern und hinrichten lassen, um dafür diese andere zu retten? 

Verzweifelt blicke ich sie an und spüre ihre Machtlosigkeit, als sie mir mit leerem Blick in die Augen sieht. Sie stand vor genau dieser Entscheidung. Und sie hat sich entschieden. 

Gegen mich. Für unsere Tochter.

Liv.

Sentenced - The last dayWhere stories live. Discover now