Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt (2)

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„Wenn sie ihr Licht für heute an den Mond abgibt und sich hinter den Bergen versteckt, wird Melia am Ende ihrer Kräfte sein und sich an die Todelben übergeben, um ins Land ohne Schmerz einzuziehen." Tabon wandte sich entgeistert dem Ebenbild der Sonne zu. Mit schwitzigen Händen fuhr er sich durch den von seinen Haaren bedeckten Nacken.

„Es gibt wirklich nirgendwo ein Heilmittel für das was sie hat?" Seine Stimme zitterte leicht. Noch wollte er nicht wahrhaben, dass Melia für immer verloren sein sollte. Das Mädchen schaute ihn aus mitleidigen honigbraunen Augen an.

„Nein, nirgends wirst du ein Mittel für das finden, was sie hat. Es tut mir leid, aber ich kann nicht einmal ausmachen, wo der Grund ihrer Krankheit liegt, weder noch was ihren Körper plagt. Sie hat schlimme Fiberträume, wenn sie nicht sogar dauerhaft mit ihren größten Ängsten konfrontiert wird."

Sie streckte ihre zarte Hand aus. „Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber auch hierfür brauche ich meine Bezahlung."

Tabon griff in seine Hosentasche und zog den ledernen Beutel von Melia heraus, in welchem sich ihr letzte bisschen Geld versteckte. Er blickte das Mädchen an und gab ihr ihren Preis.

„Verabschiede dich von ihr, es wird nicht mehr lange dauern und ihre Seele wird aus dem Körper weichen."

Eine kleine Träne schlich sich aus Tabons Auge, aber er nickte verstehend und sackte auf seine Knie zusammen. Eine kleine Hand umfasste seine Wange.

„Trauere nicht, sie wird in eine bessere Welt gebracht, dort braucht sie keine Schmerzen mehr zu erleiden. Ihr Verstand ist schon lange nicht mehr bei uns, sie lebt in ihren Erinnerungen. Melia wird dich nicht mehr erkennen können." Trostvoll strich sie über seine weiche Haut, die leichte Wärme spendete ihm Verständnis.

Tabon blickte hoch, die Sonne war fast vollständig aufgegangen.

„Das werde ich, danke für eure Hingabe." Er küsste ihr als Anerkennungszeichen auf die Finger und wendete sich mit gesenktem Kopf ab. Er hob sich widerwillig auf seine Füße, doch seine Beine schienen ihn nicht halten zu wollen, ihm nicht die Kraft geben zu können, all die Last zu tragen, die ihm soeben gebracht wurden. Nur wenige Schritte hielt er es aus, bevor er wieder auf dem feuchten Gras zusammensackte. Schleichend zog sich die Kälte durch seinen Körper, durchdrang ihn, als wäre er nicht existent. Schwer betäubte sie seine Sinne, ließ ihn nichts anderes fühlen als die Leere, die sich durch ihn bohrte.

Die Tränen tropften ihm die Wangen herunter. Warum tat er sich das an? Er hätte weiterreisen sollen. Er war ihr gegenüber zu gefühlsvoll gewesen. Wäre er gegangen, dann hätte er nicht mit ansehen müssen, wie sie starb. Es zerriss ihm das Herz sie so zu sehen.

Warme Arme umschlossen Tabon und zogen ihn zurück auf seine Beine, schleppten ihn durch seine von Wasser verschwommenen Augen in den Wirtsraum. Ein schleifendes Geräusch zog sich durch seine Ohren, als ihm ein Glas vorgeschoben wurde. Ohne groß zu zögern, nahm er es in die Hand, reckte es an seinen Mund und kippte den Alkohol seine Kehle hinab. Jemand setzte sich neben ihn.

„Du liebst sie, oder?", fragte die Wirtin mit leicht bebender Stimme. Er blieb ausdruckslos neben ihr sitzen, sie umfasste seine Hand und hielt sie zwischen ihren. „Heißt es nicht immer, was man liebt soll man loslassen? Du wirst eine neue Liebe finden, vertrau mir!"

Ein erschöpftes Lächeln schob sich in Tabons Gesicht.

„Nein. Nein das werde ich nicht." Seine Stimme tropfte nur so von der Hoffnungslosigkeit, die aus ihm heraus sprudelte. Er würde niemand anderen treffen, der die Lücke füllen könnte, die Melias Tod verursachen würde, der das flicken könnte, was ihr Anblick ohnehin schon aus ihm herausgerissen hatte. Tabon übersah absichtlich das aufmunternde Lächeln, das die Wirtin auf ihren Mund schob. Er brauchte ihr Mitleid nicht, es machte ihn krank mit anzusehen, wie sie versuchte ihm etwas von dem Schmerz zu nehmen, der sich in ihm festgesetzt hatte.

KönigstochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt