35. Falsche Freunde

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MAJA

"Jungs! Jungs, wo seid ihr?" Zum tausendsten Mal suchte ich in der Bibliothek nach den zwei Gestalten, doch nur die Bücher leisteten mir hier Gesellschaft. Ich seufzte. Hatte Sebastian nicht gesagt, dass er sich zur Treppe begeben würde? Ich durchquerte den mit Teppich ausgelegten Raum und nahm bei der Treppe immer zwei Stufen auf einmal. Das rief eine Erinnerung in mir hervor. Miriam, meine Schwester, hatte mich einmal vollgenölt, dass ich die Treppe zu schnell hochsprang und dabei total laut war. Seitdem meckerte sie mich sehr oft voll. Bei den Gedanken an sie zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Würde ich sie je wiedersehen?

Ich überlegte, ob ich froh sein sollte, dass dieses Abenteuer mich von der Sehnsucht nach Zuhause ablenkte oder ob ich mir ein schlechtes Gewissen einreden sollte, weil ich so wenig an meine Familie dachte. Aber ich brauchte meine Gedanken hier.

Endlich vernahm ich zwei männliche Stimmen. Wenig später erspähte ich Ben und Sebastian. Als auch sie mich registrierten, hielten sie mit ihrem Gespräch inne und wandten sich mir zu.

"Wir haben den Geheimgang gefunden", behauptete Sebastian und steuerte direkt auf ein Regal zu. 

"Tadaaaa!" Die Arme ausgebreitet drehte er sich zu mir und grinste. Er sah süß aus, wenn er grinste. "Okay, cool."

Ben erklärte mir, dass wir nur noch das Regal verschieben müssten und wir drückten uns dagegen. Es bewegte sich vorwärts, gewann an Geschwindigkeit und irgendwann schwang es fast von alleine auf und wir stolperten hinein. Ben verlor das Gleichgewicht, sodass Sebastian und ich ihm hochhalfen. Dann tastete ich mich im Dunkeln nach vorne.

"Hat mal jemand eine Taschenlampe?" Ben reichte mir seine. "Das Licht flackerte alle paar Minuten ein bisschen, aber ansonsten geht's."

Ich knipste sie an und ein Lichtstrahl wies mir den Weg. Der Gang, durch den wir irrten, beengte uns von beiden Seiten.

Ich ging voraus, die Jungs folgten mir. Ich überlegte mir, über was Ben und Sebastian geredet hatten. Immerhin konnten sie sich nicht leiden. Allerdings wollte ich sie nicht fragen, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen.

Einen Schritt weiter. Plötzlich wackelte es unter meinen Füßen. Der Boden, auf dem ich stand, bewegte sich. Ich suchte nach der Ursache, fand jedoch keine. Ich stand auf einem Weg. Platten unter mir. Die Platte, auf der ich festklebte, sackte ein Stück nach unten. Ich wollte weg. Einfach aufspringen und losrennen. Doch meine Beine waren wie festgefroren. 

"Alles in Ordnung bei dir?" Ben eilte zu mir herüber und berührte mich an der Schulter.

Ich versuchte, ein Wort herauszubringen, doch ich schaffte es nicht. Diese Situation war mir in meinen Träumen schon so oft begegnet. Wie ich einer gefährlichen Situation ins Auge blickte und mich doch nicht rühren, geschweige denn etwas sagen konnte.

Schlagartig machte die Platte unter uns einen Ruck und wir rasten in die Tiefe. Ich wurde zu Boden gerissen, klammerte mich an die Platte und an Ben. Ich schrie. Ich hatte Todesangst. Wieso erst jetzt? Nach allem, was wir bisher schon erlebt hatten?

Wir stoppten abrupt, was meinen gesamten Körper schmerzen ließ.

Ich keuchte, doch dann beruhigte ich mich allmählich. Nun registrierte ich die Eisenstange, die den Boden und eine Art Dach miteinander verbanden. Sebastian sprang genau von diesem herunter. "Was ist das hier?", fragte er.

"Ich hab keine Ahnung. Eine Menge Leitern, Treppen, Seile und ich weiß nicht was. Alles hängt in der Luft", antwortete ich.

"Okay. Machen wir das Beste daraus. Nach oben oder nach unten?"

"Nach oben", lautete Bens Antwort. Wir ließen ihm den Vortritt. Wir steuerten auf eine Treppe zu.



"Vermisst du deine Familie?", fragte Ben mich, während wir tausende Stufen nach oben stiegen.

"Ja, klar. Ich hab Miriam und Mariella, meine Schwestern, zwar erst vorhin gesehen - wow, das fühlt sich an, als wäre der heutige Abend Jahre her! -, aber trotzdem vermisse ich sie mehr als sonst. Ich habe diese Angst, sie nie wieder zu sehen."

"Ich glaube, es ist schon der nächste Morgen. Wer weiß, vielleicht sind die anderen alle schon aufgestanden und frühstücken gerade."

"Oder sie träumen." Ich erinnerte mich an unsere erste Unterhaltung. Wie ich ihn gefragt hatte, ob ich träumen würde. Wie wäre es, wenn alles, was passierte, wirklich nur ein Traum wäre? Wenn wir heute aufwachen würden und alles wäre so wie immer? Vielleicht habe ich den echten Ben gar nicht getroffen, sondern nur erträumt.

"Meine Freunde schlafen ganz sicher noch. Sie waren gestern auf einer Party und haben dort definitiv getrunken. Wie ich sie kenne, sind sie dann erst um 4 Uhr oder so nach Hause gekommen und dann todmüde ins Bett gefallen. Wenn sie aufwachen, wird sich die Hälfte übergeben."

Ben klang nicht gerade stolz. In seiner Stimme schwang Mitgefühl, aber auch Scham mit. Er schämte sich für seine Freunde.

"Woher weißt du das alles so genau?", fragte ich. Ich wollte nicht hochnäsig klingen, interessierte mich aber für dieses Thema und wollte deshalb so viel wie möglich darüber wissen.

"Früher bin ich mit zu den Partys gegangen. Ich hatte nie vor, etwas zu trinken, doch die Jungs können sehr überzeugend sein, wenn sie wollen. Also habe ich alles gemacht, was sie gemacht haben. Gemeinsam haben wir diesen typischen Ablauf erlebt. Mehrere Male habe ich da mitgemacht, aber irgendwann ist mir klargeworden, dass ich das gar nicht wollte. Seit ich nicht mehr mit den Jungs feiern gehe, habe ich das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören und ... sorry, ich rede zu viel, wenn mich etwas beschäftigt."

"Ist doch nicht schlimm. Red ruhig weiter." Ich schaute mich kurz nach Sebastian um. Er hatte uns überholt und machte sich bereit, an einem Seil hochzuklettern.

Ben setzte zum Reden an, doch ich gab ihm ein Handzeichen, dass er kurz warten sollte. "Sebastian, du kannst versuchen, das Seil um dich zu binden und dann an der Wand hochzulaufen, wenn das funktioniert." Da Sebastian nickte, widmete ich mich wieder dem Gespräch mit Ben.

"Jedenfalls fühle ich mich in letzter Zeit einsam. Klar, ich bin in den Pausen immer bei den Jungs, aber manchmal reden die nur über Partys und Mädchen und noch mehr Partys. Ich fühle mich bei denen einfach irgendwie nicht mehr wohl. Aber es ist so schwer, seine ehemaligen besten Freunde hinter sich zu lassen."

Während ich ihm zuhörte, schnappte ich mir ebenfalls ein Seil und band es um meine Hüfte. 

"Hm. Jeder Mensch verändert sich." Für einen Moment blitzten ein paar Bilder von Angi durch den Kopf. Sie hatte sich im Laufe der Jahre so sehr verändert. Sie hatte angefangen, bunte Klamotten so zu kombinieren, dass selbst gelbe Stiefeletten zu einem roten Kleid passten. Sie hatte kochen gelernt. Sie hatte das Selbstbewusstsein erlangt, dass sie heute ausstrahlte. Sie hatte ihren Freund gefunden und gelernt, wie man sich in einer Beziehung benahm. Sie hatte gelernt, mit bestimmten Familiensituationen umzugehen. Sie hatte sich in der Zeit, in der ich sie kannte, so sehr verändert.

"Die besten Freunde verändern sich. Du selbst veränderst dich. Manchmal entwickelt ihr euch in verschiedene Richtungen. Das kann dazu führen, dass man zu unterschiedliche Ansichten hat und einfach nicht mehr miteinander klarkommt beziehungsweise, dass man den anderen einfach nicht mehr braucht. Manchmal muss man einfach lernen, loszulassen. Wenn du sagst, dass du dich bei deinen Freunden unwohl fühlst, dann würde ich vermuten, dass sie dir nicht mehr wichtig sind. Die Menschen, die du jetzt kennst, sind nicht mehr die Menschen von früher. Wenn du sie gehen lässt, schaffst du in deinem Herzen Platz für neue Leute. Du hast gesagt, dass du jetzt in der elften Klasse bist. Da lernst du durch die verschiedenen Kurse so viele neue Gesichter kennen, dass du dort sicherlich ein oder zwei nette Personen treffen wirst." Ich atmete heftig aus. Ich hatte mich in ein Thema zu sehr hineingesteigert. Eigentlich wollte ich Ben ja nur einen Ratschlag geben. 

Ich ließ Ben meine Worte verarbeiten und konzentrierte mich voll und ganz auf das Hochklettern.

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