34. Möge sie weise entscheiden

4 1 0
                                    

SEBASTIAN

Als ich Majas Stimme vernahm, wechselte ich die Richtung. Sie stand auf der Treppe und lehnte sich mit einem Stapel Bücher gegen das Geländer. Als ich sie erreichte, schlang ich meine Arme um sie.

"Ich bin so froh, dass es dir gut geht", murmelte ich in ihr Ohr. Mein Herz pochte laut und in einem schnellen Rhythmus. Maja fuhr mit ihren Händen beruhigend über meinen Rücken. Hitze schoss in meine Wangen. Ich hatte sie vermisst. Ein Räuspern zerstörte diesen wunderbaren Moment. Ben.

Ich ballte meine Hand zur Faust.

"Wir sollten weiterlaufen. Vielleicht finden wir die anderen." Ben überkreuzte die Arme über seiner Brust.

"Ja, da hast du Recht." Maja  griff in einen Rucksack, der ziemlich mitgenommen aussah und holte ein schwarzes Buch hervor. Ich erkannte es wieder. In diesem Buch hatte Jacko seine Eindrücke über die Natur niedergeschrieben.

"Hast du das geklaut?" Maja machte ein zerknirschtes Gesicht.

"Ich habe gefühlt, dass es wichtig und hilfreich sein könnte und habe es deshalb mitgenommen." 

Maja schlug das Buch auf und blätterte einige Momente. "Hier!" Sie las den Absatz laut vor.

Die Bibliothek war wunderschön. Bücher über Bücher standen nebeneinander in den Regalen. Mancher Staub hatte sich auf den Oberflächen der Regale oder der Bücher gesammelt. Ich zog Bücher über den ersten und zweiten Weltkrieg heraus. Diese Themen interessierten mich sehr. Dann setzte ich mich auf einen bequemen Stuhl an einem runden Tisch. Nachdem ich die ersten paar Seiten eines Buches gelesen hatte, trat Annastasia zu meinem Tisch. Sie sagte, dass wir weitermüssten. Seufzend legte ich alle Bücher wieder in die Schränke zurück, die nicht weit entfernt von dem Tisch mit der roten Tischdecke standen. Das, in welchem ich den Anfang schon gelesen hatte, ließ ich heimlich in meinen Rucksack gleiten. Dummerweise hatte Annastasia dies gesehen. Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich so unvorsichtig gewesen war. 'Was soll das?', fragte sie. Angst machte sich in mir breit. Annastasia schüchterte andere mit ihrer Größe sowieso schon ein, doch wenn sie wütend war, wirkte sie noch viel bedrohlicher. 'Gib das Buch sofort zurück', knurrte sie. Beinahe hätte ich nachgegeben. Ich wollte nicht, dass ausgerechnet Annastasia sauer auf mich war. Doch ich wusste, dass ich mir das Buch zu Hause nie leisten könnte. Meine Eltern verdienten nicht viel Geld und kauften somit nur das Nötigste. Ein Buch über den Zweiten Weltkrieg würde ich demnach nie lesen können. 'Nein.' Annastasia funkelte mich wütend an. 'Her damit.' Sie streckte eine Hand aus. Aber ich blieb standhaft. Das machte sie wütend. Sie war es gewohnt, dass die Menschen zu ihr aufschauten und auf sie hörten. Das ich mich ihr widersetzte, würde für mich wohl Folgen haben. In einem Moment stand Annastasia noch ruhig da und ballte ihre Fäuste. Im nächsten Augenblick schoss sie auf mich zu und drückte mich gegen ein Regal. Bevor ich mich allerdings wehren konnte, fiel ich nach hinten. Verwirrt schaute ich mich um. Wir waren durch einen Geheimgang gepurzelt. Das Bücherregal hatte sich wie eine Tür geöffnet. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich in einem alten Film. Wow. Einfach nur wow. "

"Ein Geheimgang!", rief ich aus. "Wo fangen wir an zu suchen?" Bevor Maja oder ich über die Frage nachdenken konnten, antwortete Ben.

"Ist doch klar. Wir müssen nach Büchern aus dem Zweiten Weltkrieg in der Nähe eines Tisches suchen." "Ja. Und wir müssen nach einer roten Tischdecke Ausschau halten", fügte ich hinzu.

Wir teilten uns auf. Ich blieb auf der Treppe. Ab und zu kam ich an Tischen vorbei und überprüfte jedes Mal die Tischdecke. Weiß mit gelben Blümchen. Ich bewegte mich immer weiter nach oben, weg von den anderen.

Dann sah ich es. Eine weinrote Tischdecke etwas weiter oben. Ich stolperte dahin und erreichte außer Atem besagten Tisch. Dann wandte ich mich den Regalen zu. Ich entdeckte viele geschichtliche Bücher. Ich ging die Reihen von unzähligen Büchern durch, bis ich Bücher mit dem Titel "Der Zweite Weltkrieg" fand. An dieser Stelle drückte ich mich gegen den Schrank. Da ich nichts gemerkt hatte, trat ich einen Schritt zurück und schaute auf den Boden. Ich hatte das Regal tatsächlich ein Stückchen nach hinten bewegt. Mit mehr Motivation stemmte ich mich nochmal dagegen, doch alleine schaffte ich es nicht. Die Geheimtür rückte nur zentimeterweise auf.

Als ich mich umdrehte, prallte ich beinahe mit Ben zusammen. Er schaute hinter mich und entdeckte meinen Entdeckung.

"Aha. Du hast die Geheimtür also gefunden und wolltest uns nicht Bescheid sagen?"

"Ich wollte euch doch gerade rufen!", verteidigte ich mich. "Ja klar. Sah auch ganz danach aus." Ben triefte vor Sarkasmus.

"Wirklich. Du musst mir glauben." Ich klang verzweifelt. Ich wollte ihn und Maja gerade rufen.

"Dir glauben? Das ist ja fast, als würdest du mich darum bitten, dir zu vertrauen. Und du weißt genauso gut wie ich, dass keiner von uns dem anderen vertraut." Ben konnte ganz schön eisig schauen, wenn er wollte.

"Das liegt daran, dass du vom ersten Moment an so böse und misstrauisch mir gegenüber warst. Deshalb vertraue ich dir nicht." Ich strich mir durch die Haare.

"Du bist einfach so aus dem Nichts aufgetaucht. Du hast Maja so angesehen, als würde sie dir gehören. Ich wollte Maja vor dir beschützen. Da musste ich nun mal misstrauisch gegenüber dem eigenartigen Fremden sein."

"Du willst Maja für dich haben! Du lässt ihr nicht mal eine Wahl!", rief ich. Das klang so kläglich, aber ich konnte meine Worte nicht zurücknehmen. 

"Du willst sie mir doch wegnehmen!", gab Ben zurück.

"Ihr seid doch nicht mal richtig zusammen. Wie kann ich dir Maja dann wegnehmen?", fragte ich.

"Ich weiß, dass sie in mich verliebt ist. Und ich bin in sie verliebt. Mann, ich war noch nie so sehr in ein Mädchen verliebt wie in Maja." Komischerweise glaubte ich ihm. Ich konnte ihn verstehen. Maja hatte das unglaublich Talent, andere zu verzaubern. Wenn Maja sich allerdings für Ben entschied, würde das mein Untergang bedeuten. 

"Ich habe mich auch in sie verliebt. Vom ersten Augenblick. Als ich sie zum ersten Mal sah, da war mir klar, dass sie das schönste Mädchen auf der Welt war." Ben nickte. Er schien meine Sichtweise zu verstehen. Auch wenn wir nicht beste Freunde waren, würden wir ab jetzt vielleicht besser miteinander klarkommen.

Die Kälte in Bens Augen war verloschen und leise flüsterte er etwas.

"Möge Maja weise entscheiden, wen von uns beiden sie wählt."

"Möge sie weise entscheiden." 





Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt