5. Der Fluch des alten Hauses

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"Wie genau geht das eigentlich? Also jemandem den Fluch zu übertragen?" Angelina musterte Jacko skeptisch und wischte mit Handschuhen ein paar Schneeflocken von ihrer Brille.

"Man versucht, andre zu überred'n. Enzuwill'gen. Wenn sie bereit sind, dann geb'n sie dir ihr Wort und dann müss'n sie entweder mit Blut oder mit 'ner Haarsträhne oder 'nem Fingernagel bezahlen, dass sie auch wirklich ihr Wort halt'n."

Bei der Vorstellung, einen Fingernagel zu verschenken, zog sich mir mein Magen zusammen und ich unterdrückte ein "Igitt!".

"Was für einen Sinn hat das?"

Ich merkte an Angis zweifelnder Stimme, dass Jacko sie nicht von seiner Erzählung überzeugt hatte.

Alex neben ihr schien begeistert zuzuhören und jedes Wort aufzunehmen, als wären sie ein Heiligtum.

"Nun ja, wir könn' beruhigt sterben. Wir geb'n den Fluch an Jugendliche weiter, die noch ihr ganzes Leb'n vor sich ham, um neue Kinder zu such'n, auf die sie den Fluch übergeb'n. Es ist wie 'ne Kette.

"Wurde es bewiesen, dass man nach dem Tod wirklich in dieses alte Haus zurückkehrt?", schloss sich nun auch Benjamin der Fragerei von Angi an.

Er schenkte den Erzählungen von Jacko keinen Glauben.

Mein Blick wanderte wieder zu Jacko und seinem Buch. Dieses Buch machte mich verrückt.

Er nahm wieder das Wort auf.

"Nein, es wurde nich bestätigt. Aber ich glaub fest dran und ich will nicht nach 'm Tod in meinem Albtraum weiterleb'n. Wenn ihr erst mal im alten Haus gewesen seid, werdet ihr wiss'n, was ich meine. Es wär schrecklich, jeden Tag dort zu verbring'n. Jeden verdammt'n Tag deines Todes. Und der Tod wird unendlich sein. So stell ich's mir vor."

Erst jetzt fiel mir plötzlich auf, dass Jacko die Enden von Wörtern oft verschluckte.

Wider Erwarten konnte ich Jacko und seine Sorgen verstehen.

"Du sprichst manchmal so, als würden wir in dieses Haus gehen. Was macht dich da so sicher? Was, wenn wir nicht deinen Fluch übernehmen?", fragte Angi.

"Dann werdet ihr morgen ohne Familie aufwachen." Jacko sagte es in so einem entschlossenen und gruseligen Ton, dass ich zusammenzuckte. Ich zweifelte nicht daran, dass er sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Seiner Meinung nach hing sein ganzer Tod von uns und dem Versprechen, das wir ihm geben könnten, ab.

Ich dachte an meine Familie. Meine beiden Schwestern, denen ich jeden Tag eine Gute Nacht und einen Guten Morgen wünschte, mit denen ich oft Filme schaute, gemeinsam lachte oder spazieren ging und mit denen ich mich natürlich auch stritt. Meine Eltern, die mich immer unterstützten, die alles versuchten, damit es uns so gut wie möglich ging, die uns eine fröhliche Kindheit beschert hatten und die meine zweitliebsten Streitpartner darstellten. Mein älterer Bruder, der zurzeit in einer anderen Stadt studierte, der mich regelmäßig anrief, der mich als Ratgeber brauchte.

Meine Familie hatte ich so sehr lieb, sie hatten mich so sehr geprägt und mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute war. Ohne sie würde meine Welt zusammenbrechen und ich könnte nie wieder aufrecht im Leben stehen.

"Ich mache mit!", rief ich, bevor ich die Nachteile betrachten konnte.

Vielleicht setzte ich jetzt alles aufs Spiel oder Jacko hatte sich das alles nur zusammengereimt, doch ich würde meine Familie nicht riskieren.

Jacko grinst bis über beide Ohren. Ob er es heute zum ersten Mal geschafft hatte, jemanden zu überreden?

"Blut, Haarsträhne oder..."

Ich unterbrach Jacko mitten im Satz. "Ich nehme die Haarsträhne."

"Gut, braves Mädel."

Jacko begann, in einer großen Tasche zu wühlen, bis er ein Bündel von Tüchern entdeckte und es herauszog. Unter diesem Bündel kam ein beängstigend großes Messer zum Vorschein.

Mit zitternden Händen nahm ich das Messer entgegen, setzte meine Mütze ab, zog eine Haarsträhne aus meinem Zopf und bewegte mit einem Ruck das Messer. Zum Glück brauchte man nur eine kleine Haarsträhne.

Ich hatte mir einmal ein Büschel Haare mit einer Schere abgeschnitten, weil ein Kaugummi in ihnen festgehangen hatte und ich dachte, dass ich es nie wieder rausbekommen würde. Nur ein paar Minuten später hatte ich allerdings meine Aktion bereut, da mir eine große Strähne meiner Haare fehlte.

Ich gab Jacko erst die Gegenleistung, die er von mir erwartete, damit ich sein Wort einhielt und reichte ihm dann meine Hand. Seine schwitzige, klebrige Hand umschloss meine, er sagte: "Sprich mir nach: Ich, dein Name,..."

Ich wiederholte seine Worte. "Ich, dein Name."

"Nein!" Jacko schüttelte den Kopf. "Wenn ich sag, dein Name, dann musst du dein' richtigen Namen einsetzen."

Ich atmete aus. "Ich, Maja..." Meinen Nachnamen vermied ich, aus Angst, dass er so meine Familie doch noch aufspürte.

"Schwöre, Jackos Fluch zu übernehmen und auf mich zu übertragen."

Ich gab den genauen Wortlaut wieder und sobald er zufrieden nickte, zog ich meine Hand zurück und wischte sie unauffällig an meiner Hose ab.

Plötzlich umfasste eine vom Schnee und dessen Kälte kühle Hand meine und drückte sie leicht, dann ließ Ben wieder ab. Erstaunt von dieser zu vertrauten Geste wandte ich mich zu ihm.

"Du bist unfassbar mutig. Das mutigste Mädchen, das ich je kennengelernt habe."

Die Worte erwärmten mein Herz. "Danke", wisperte ich.

Wenn ich nicht schon ein wenig verknallt gewesen wäre, dann hätte Amor spätestens jetzt zugeschlagen.

Mein Blick lokalisierte wieder Jacko, der das geheimnisvolle Buch aufgeschlagen hatte, und sich darin etwas durchlas.

"Ja, du hast alles richtig gemacht, mit der Haarsträhne und den richtigen Worten."

Er schlug das Buch zu und legte es zurück an den Platz. Obwohl, er hatte das Buch so neben sich verstaut, dass ich unauffällig drankommen könnte und jetzt, da es für ihn eine Bedeutung hatte, spürte ich das immer größer werdende Bedürfnis, einen Blick in dieses Buch zu werfen.

Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt