Ich will Dich!

Ich wollte in diesem Moment nur tot sein.

Jess

Ich stehe vor dem Fenster unseres Schlafzimmers, während Dave sich im Bad fertig macht. Der Tag ist erhellt von der Sonne, die mit jedem da draußen um die Wette scheint. Nur nicht mit mir... mit uns. Das Loch in mir ist groß und ich fürchte mich davor, wie es weiter gehen kann. Wird Gina meine Vergangenheit wiederholen? War das eine Kostprobe? Womit hat meine Tochter das verdient? 

Ich habe gehofft... gehofft, dass nach all dem schlechten, was mir damals passiert war, nun die Belohnung kommen würde. Dass meine Kinder verschont bleiben... Auch wenn es nicht zu Ende gebracht wurde, so wird Gina nun damit leben müssen. 

Meine Augen schließen sich wie von selber und die Erinnerungen jener Nacht, in der Joshua mich... in seinen Fängen hatte, schweben vor meinem Inneren Auge. Seine ekelhaften, widerlichen Hände, die mir meine Klamotten vom Leibe rissen... Sein Mund, der sich mit einem Gewicht auf meine fallen ließen und seine Zunge... die sich in meinen Rachen rammte... Er hat mich als lebloses Stück benutzt und das hat ihm gereicht. Ihm hat es gereicht, dass er seine Erfüllung gefunden hat und mein Verderbnis... Und er hat es gefilmt...

Ich wollte in diesem Moment nur tot sein. Ich wollte, dass er mir die Erlösung geben könnte, denn der Schmerz und die Abscheu nach seiner Tat, waren unmöglich zu ertragen. Der Hass auf mich selber, denn ich habe es nie bemerkt, obwohl mir Kate und Dave ihren Missmut gegenüber Joshua gezeigt haben, trug Wurzeln. Trotzdem habe ich versucht es zu vergessen, habe eine Therapie gemacht, doch nun kommt alles wieder hoch. Vergebens musste ich mich meiner Angst stellen, meinem Scham, meiner Enttäuschung und habe gelernt wieder zu Vertrauen. Nur damit sich nun alles wiederholt... Ist das der Plan Gottes? Mir alles zu nehmen? Mir Schmerzen zuzufügen? Mir meine Würde zu nehmen? Mich zu zerstören? Mich zu brechen? Mir meine Schwester zu nehmen!? Wieso passiert das hier?!

Ich schlage meine Hände über mein Gesicht, denn die Tränen lassen sich nicht aufhalten. Alles bricht wieder aus mir heraus, die Schmerzen von damals und die Neuen... Die, meiner Tochter. Wenn ich es doch nur verstehen könnte... Gäbe es doch irgendeinen Sinn dahinter...

Erschrocken weiche ich zurück und schaue Dave wie ein scheues Reh an, als er mir an meine Schulter packt. Mein Wimmern war kaum zu überhören und doch habe ich es nicht kommen sehen. So, wie ich nichts was geschieht kommen sehe. Weil ich als Mutter versage. Weil ich als Mensch versage. ,,Jess", haucht Dave und zieht mich an meinem Arm sanft zu sich. 

Ich sehe auch seinen Schmerz. So wie er damals dachte, es wäre alles seine Schuld, denn es war seine Affäre, die alles angezettelt hatte... So denkt er nun auch, dass es seinetwegen so weit kam. Jonas Vater war einer unserer damaligen Mitarbeiter. Wegen eines unachtsamen Fehlers wurde er gefeuert... Als Gina angefangen hat sich mit Jonas zu treffen, hat Dave ihn überprüfen lassen. Dass er der Sohn eines ehemaligen Mitarbeiters ist, war auffällig, weswegen Dave dort hingefahren war. Doch sein Vater stand auf eigenen Beinen und schien keinen Groll gegen Dave zu hegen. Warum dann sein Sohn?

Ich lege meine Hand an Daves Wange, während er mich an meiner Taille an sich zieht. Wir sind gefangen in der Trauer des Gegenübers und verschmelzen miteinander. So komisch es klingt, Dave gibt mir die Kraft mich selber zu sehen... So wie er mich sieht... So wie ich sein will. ,,Du hast nicht geschlafen, mein Schatz", flüstert Dave, als wär jemand im Raum oder überhaupt in der Nähe. Dabei sind wir vollkommen alleine. Das Haus ist groß, jedes der Kinder hat ein eigenes Schlafzimmer mit Bad und einem Ankleideraum. Dave wollte jedem die nötige Privatsphäre geben, die man vermisst, sobald man draußen ist. 

Wie von alleine zucke ich meine Schultern und versuche nicht mehr meine Tränen zurück zu halten. ,,Ich kann nicht. Die Erinnerungen fressen mich auf", gebe ich zu. Es stimmt. So viele Jahre habe ich es vergessen, praktisch verdrängt und es gelang mir gut, denn die Therapie half mir ungemein. Jetzt, wo es mit meiner Tochter passiert ist... beinahe... kommt alles wieder hoch und ich fühle mich in diese Zeit zurück versetzt.